Faszinierende Metastrategien 16 | Selbstkritische Betrachtungen 11

14Apr
2019

Der Ökonom Thomas Straubhaar erklärt in in einem Spiegel-Interview das Ende der Volksparteien:

Die Begriffe »Nation« und »Volk« sind vielfach nur noch Hüllen ohne klare Bedeutung. Es gibt kein Volk mehr als Einheit, und deshalb dürfte es bald auch keine Volksparteien mehr geben. Dafür gibt es überall Bewegungen, und die tragen jetzt statt der Parteien den politischen Wettstreit aus. Das sind unfassbar dynamische Antreiber.
Thomas Straubhaar, im Spiegel 15/2019

Wenn man sich die häufigsten Argument der Argumente der “Fridays for Future” Demonstrationsteilnehmer anhört, warum sie ihr Anliegen nicht in Parteien vertreten, dann fallen Sätze wie: Die Parteien seien zu träge, es braucht zu lange bis man sein Anliegen einbringen kann, es dauert noch viel länger, bis man für ein nennenswertes Amt kandidieren kann und vor allem: Man muss jede Menge andere Anliegen mittragen, die man vielleicht nicht gut findet. Die Grünen sind keine klassische Volkspartei und doch sind sie viel mehr als der parlamentarische Arm der Umweltbewegung, so sehr sie auf vielen anderen politischen Themengebieten mitwirken.

Die Vertreter der Parteien argumentieren dagegen “Wir sind eben eine Parteiendemokratie, das hat sich nun schon lange so bewährt.” Ich erkenne selbstkritisch an, dass ich als politisch interessierter Mensch mich auch nicht dazu durchringen kann, mich in einer Partei zu engagieren. Ich finde bei jeder der großen Parteien Positionen, die ich nicht vertreten möchte. Am Parteiensystem festzuhalten, weil es sich bewährt hat, ist meiner Ansicht nach erst mal ein valider, aber auch konservativer Ansatz. Auch wenn die Grünen mittlerweile von diesem Ansatz überzeugt sind.

Mit Bewegungen Politik zu machen, statt über den normalen parteipolitischen Prozess zu gehen ist ein gewagtes Vorhaben. Es zu versuchen, sehe ich als faszinierende Metastrategie.

In dem Sinne finde ich auch den Münchner Radentscheid sehr unterstützenswert, weil ich als täglicher Radler in der Münchener Innenstadt sehr gerne an der derzeitigen Situation etwas ändern würde. Zugegebenermaßen hätte ich vor einigen Jahren aus Prinzip nicht auf Seiten verlinkt, die mit dem albernen Gender-Sternchen ihre Texte weniger lesbar machen. Aber so viel Kompromissbereitschaft muss man dann eben doch an den Tag legen, wenn man einer Bewegung, die sich für ein einzelnes Interesse einer recht heterogenen Interessengruppe einsetzt, eine Chance geben will.

Faszinierende Strategien 22 | Selbstkritische Betrachtungen 10

12Apr
2019

Es ist Freitag und wieder haben viele Jugendliche und junge Erwachsene für das Klima demonstriert. Ich empfinde das eine faszinierende Strategie, in dieser Sache mit dem Anspruch aufzutreten, dass es um die Zukunft der jetzt jungen Leute geht, die in der Politik einfach eklatant unterrepräsentiert sind. Letztens gab es eine konkrete Liste an Forderungen an die Politik. Die Konsequenz, so hat SpOn nachgerechnet, wären deutlich höhere Treibstoffpreise und vor allem bis zu 2000 € mehr für Langstreckenflüge. Politisch erscheint das allerdings reichlich illusorisch und hat natürlich auch enorme Sprengkraft. Am ehesten würde man es wohl nur einer Partei zutrauen, solche Ziele mit Nachdruck zu vertreten, nämlich den Grünen.

Nur was ist mit den Wählern der Grünen? Die stoßen am meisten CO2 von allen Wählergruppen aus, gehören sie doch zu der soziographischen Gruppe, die sich die größten Autos, die geräumigsten Wohnungen und vor allem die meisten Flugreisen leisten kann. Eine Tatsache, die die der sonst mir sehr sympathische Robert Habeck bei Anne Will zuletzt nicht besonders souverän regiert hat.

Dennoch, ich glaube bei Problemen der gerechten Aufteilung von Almende-Gütern wie Umweltressourcen nicht mehr an die Verantwortung des einzelnen. Für jeden, der im Berufsverkehr vom Auto auf’s Rad umsteigt, wird im Mittel ein anderes Auto mehr unterwegs sein. Solange der Verkehrsfluss nicht derart langsam wird, dass es keinen Sinn mehr macht, voran zu kommen, werden die Straßen voll sein. Die Vorgehensweise des Münchener Umweltreferats den Verkehr “verflüssigen” zu wollen, um die Luftqualität zu erhöhen, empfinde ich als himmelschreienden Unsinn. Wer weniger Autos in der Stadt will, muss zu drastischen Maßnahmen greifen: Eine hohe City-Maut (30 € oder mehr pro Tag?), viel weniger und teureren Parkraum (20 € und mehr pro Tag?) und viel mehr Fahrradspuren (grundsätzlich 1,5m breite Fahrradwege, was fast überall bedeutet, eine Autospur wegzunehmen). Die Konsequenz wäre übrigens auch für mich, mein Auto öfter mal stehen zu lassen, jedenfalls abends (zur Arbeit nutze ich nur das Fahrrad). Derzeit zahle ich für den variablen Kostenanteil einer Autofahrt weniger als die Hälfte für ein U-Bahn Ticket. Das ist umwelttechnisch ein völliger Irrsinn. Wahrscheinlich würde ich auch weniger der viel zu günstigen Fernreisen machen. Mit allem könnte ich gut leben.

Wenig faszinierende Erkenntnisse 18 | Wenig faszinierende Strategien 22

24Feb
2019

Die erste wenig faszinierende Erkenntnis des Jahres, die zum Gegenstand eines Blogbeitrags hier werden soll, betrifft Menschen mit Migrationshintergrund in diesem Land. Die Medien sind gerade voll mit Berichten über kriminelle arabische Clan-Strukturen in Essen oder Berlin. Um das einmal klarzustellen: Ich finde es vollkommen richtig, dass darüber ausführlich berichtet wird. Und natürlich ist die letzten Jahre einiges schief gelaufen bei den Behörden, dass es so weit kommen konnte. Und wenn irgendjemand darüber nicht berichtet hat oder in einer Behörde weggesehen hat, weil er es für politisch wenig opportun hielt, über “kriminelle Ausländer” zu berichten, dann war das grundfalsch.

Aber was ist mit der überwältigenden Mehrheit der gut integrierten Migranten, die all die Jobs machen, die unseren Wohlstand erst ermöglichen, und die kaum ein Deutscher machen will? Die Betreiber günstiger Imbissläden, die Arbeiter in der Nicht-Vertrags-Autowerkstatt, die Paketkuriere, die Spediteure, die Küchenmonteure, die günstigen Friseure – und das sind nur diejenigen Branchen mit hohem Anteil an Migranten, die wir tagtäglich sehen. Uns über die günstigen Preisen und die hohe Zuverlässigkeit freuen, falls wir das den bewusst wahrnehmen. Viele Jobs in Fabriken mit hohem Anteil an ausländischen Arbeitern bzw. Menschen mit Migrationshintergrund bleiben für uns unsichtbar. Jobs, für die man kaum Deutsche findet, die sie machen würden.

Fatma Aydemir, eine Tochter türkischer Gastarbeiter, schreibt dazu:

Und vielleicht ist das Wort Migrantenbonus auch gar nicht so falsch. Nur dass es kein Bonus ist, den wir erhalten, sondern einer, den wir vergeben: Vielleicht wissen aufmerksame Arbeitgeber_innen inzwischen einfach, dass sie von uns für das gleiche Geld mehr bekommen.
[…]
Doch um ehrlich zu sein: Wenn ich mich umschaue, sehe ich in diesem Land niemanden, der so hart arbeitet wie Migrant_innen. Niemanden. An Burn-out aber leiden immer nur die Deutschen. Komisch.
[…]
Ich konnte gerade mal meinen Namen schreiben, da machte meine Mutter schon drei Jobs gleichzeitig: morgens Bäckerei, mittags Kartonfabrik, nachts Wäscherei. Mein Vater arbeitete fast vierzig Jahre im grellen Halogenlicht von Fabriken und verfiel kürzlich in eine Krise, weil er zum ersten Mal in seinem Leben arbeitslos war. Sein Arbeitgeber hatte ihn im Zuge eines Stellenabbaus entlassen. Doch hielt mein Vater es keine drei Monate zu Hause aus. Dann ließ er sich von einer Zeitarbeitsfirma in eine andere Fabrik schicken, für den halben Lohn und weniger Urlaubsanspruch. Er ist trotzdem zufriedener. Denn er kann nicht mehr nicht arbeiten.
aus: “Das Ende des German Dream”, Spiegel Online

Es ist eine wenig faszinierende Strategie, die Leute auszubeuten, die man entweder als “faul und kriminell” beschreibt oder aber, wenn das all zu offensichtlich nicht zutrifft, behauptet “die Ausländer nehmen uns unsere Arbeitsplätze weg”. Was die überwältigende Mehrheit der Migranten angeht, geht das derart an der Realität vorbei, dass es kaum wert scheint, sich darüber aufzuregen. Als Wahlkampfmotto für eine AfD mit dem Kern einer NPD 2.0 taugt es immer noch.

Weiter schreibt Aydemir:

“Masseneinwanderung ins deutsche Sozialsystem”, “Wirtschaftsflüchtlinge”, “Asyltourismus” – immer häufiger werden rechte Kampfbegriffe normalisiert. Inzwischen dominieren sie Politik und Medien. Damit wird Angst geschürt vor denen, die gekommen sind, um den Deutschen etwas wegzunehmen. Doch die einzige plausible Erklärung für diese Verlustangst ist Rassismus. Sonst nichts. Deutschland hat schon immer von Zuwanderung profitiert und tut es heute noch, ganz egal, was uns besorgte Bürger und Heimatminister weismachen wollen.
(gleiche Quelle wie zuvor)

Natürlich profitieren wir nur deswegen, weil genug Leute ins Land kommen, die bereit sind, schlecht bezahlte Arbeit zu machen. Warum ist das so? Die höhere Bereitschaft, etwas zu erreichen, wenn man schon den Mut gefasst hat, in die Ferne aufzubrechen? Der große Kaufkraftunterschied zwischen Deutschland und deren Heimatländern, in die sie ein Teil des Lohns schicken? Und der Rest der Preisbildung und der Arbeitsbedingungen ist dann der freie Markt? Zum Teil sicherlich. Leute, die ohne Ausbildung ins Land kommen, werden natürlich weniger verdienen als die, die schon ein Berufsabschluss oder ein Studium haben.

Aber es gibt auch Gründe für Marktversagen, und struktureller Rassismus gehört sicher dazu. Wer glaubt, den gebe es doch gar nicht in Deutschland, möge sich beispielsweise die Studie zu Bewerbungschancen bei ausländisch klingenden Vornamen zu Gemüte führen. Schon über 4 Jahre her, aber ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass sich da viel geändert hat. Solange Dieter Bohlen (und der Großteil seiner Fans wahrscheinlich auch) es für eine zielführende Frage hält, bei einem fünfjährigen Mädchen mit asiatischem Aussehen die Migrationsgeschichte der Großeltern abzufragen, weil er eine Antwort wie “aus Herne” nicht akzeptiert, haben wir ein Problem mit Rassismus. Eine wenig faszinierende Erkenntnis.

Hörenswertes 1 | Faszinierende Metastrategien 15

09Dec
2018

Die Apologeten des digitalen Zeitalters träumen von einer so automatisierten Welt, dass den allermeisten Menschen die Arbeit ausgeht, die nicht so schlau sind wie ihresgleichen. Und sie haben ein wenig Angst vor der beschäftigungslosen Masse an Leuten, die der Arbeitswelt kognitiv nicht mehr gewachsen sind. Viele fordern ein bedingungsloses Grundeinkommen. Über die Frage, ob das nun gut oder schlecht ist, kann man gerne debattieren wenn es einmal so weit ist, dass uns die Arbeit ausgeht.

Dies ist schlicht nicht der Fall. Volkswirtschaften wie Deutschland, Schweiz oder Südkorea mit sehr viel Automatisierung in der Produktion erfreuen sich der Vollbeschäftigung. Wenn durch die Digitalisierung Jobs wegfallen, dann sind es vor allem die Jobs der Akademiker: Früher haben Planer tolle Produktionspläne, Zeitpläne oder Routen geplant, heute machen das Algorithmen. Noch früher haben Mathematiker Großraumbüros gefüllt, in denen mit Zettel und Stift gerechnet wurde. Bis die ersten Computer kamen.

Wer bekam dagegen schon mal ein Paket in den dritten Stock über verwinkelte Treppenhäuser von einem treppensteigenden Roboter hochgetragen? Der KI-Forscher Hans Moravec hatte das als “Moravec’s Paradox” bekannt gewordene Prinzip, dass die einfachste Arbeit am schwersten zu automatisieren ist, folgendermaßen auf den Punkt gebracht:

“It is comparatively easy to make computers exhibit adult level performance on intelligence tests or playing checkers, and difficult or impossible to give them the skills of a one-year-old when it comes to perception and mobility.”
Moravec’s paradox (Wikipedia)

Paketboten geht also die Arbeit nicht aus, vor allem nicht in Zeiten, in denen Amazon & Co der Weihnachtsmann ist. Wenn das Geschenk doch nicht passt, kann man’s immer noch 30 Tage zurückgeben. Dabei wird dann viel niedrigpreisige Ware direkt entsorgt, weil das billiger ist, als die Ware noch mal im Regal einzusortieren und auf Vollständigkeit zu prüfen. Aber die Arbeit der Paketboten hat sich in Zeiten harter Konkurrenz und technisch einfach zu realisierenden Tracking grundlegend verändert.

Zudem hat es die Logistikbranche mit faszinierender Kreativität geschafft, den Sozialstaat durch “Solo-Selbstständige” und “Sub-Sub-Subunternehmer” komplett auszuhebeln und die effektiven Löhne ihres Fußvolks immer weiter sinken zu lassen. In einem äußerst hörenswerten Lied hat nun Jan Böhmermann versucht Bewusstsein dafür zu schaffen, was hier in Deutschland am unteren Ende der Lohnskala passiert.

Trepp auf! Wir sind die Versandsoldaten!
Trepp auf! Logistikproletariat!
Ding-Dong, immer liefern, niemals warten,
keiner da, Zettel rein, Treppe ab!
Wir sind Versandsoldaten – Jan Böhmermann & der Chor der Scheinselbstständigen (Youtube)

An diesem Problem tragen wir alle durch unsere Online-Bestellungen unseren Teil dazu bei, ohne durch unsere Konsumscheidung eine nennenswerte Steuerungswirkung zu haben (der “kleine Laden um die Ecke” wird genauso durch DHL, Hermes & Co. beliefert…). Den Ansatz, auf künstlerische Weise ein Problembewusstsein dafür zu schaffen, sehe ich als faszinierende Metastrategie.

Lesenswertes 4 | Faszinierende Metastrategien 14

29Oct
2018

Jean-Paul Sartre hat mich fasziniert, ehe ich auch nur eine Zeile von ihm gelesen habe. Allein aufgrund der Tatsache, dass er den Literaturnobelpreis abgelehnt hat, um seine politische Unabhängigkeit zu wahren. Die höchste Auszeichnung für einen Literaten, vergeben von einem Gremium, das nicht gerade im Verdacht stand, irgendwelchen Partikularinteressen zu folgen, sondern ihn auch noch für seinen “freiheitlichen Geist” auszeichnet. Und damals gab es noch keine Sexskandale im Gremium für den Literaturnobelpreis (bzw. war jedenfalls nichts darüber bekannt). Aber die Stockholmer Akademie war eben doch eine Institution des Westens:

“Meine Sympathien gehören unzweifelhaft dem Sozialismus… Aber ich wurde in einer bürgerlichen Familie geboren und erzogen. Dies gestattet mir, mit all jenen zusammenzuarbeiten, die eine Annäherung der beiden Kulturen wünschen… Aus diesem Grund kann ich aber keinerlei von kulturellen Organisationen weder des Ostens noch des Westens verliehene Auszeichnungen annehmen… Obwohl alle meine Sympathien den Sozialisten gehören, könnte ich dennoch gleicherweise zum Beispiel einen Lenin-Preis nicht annehmen… Diese Haltung hat ihre Grundlage in meiner Auffassung von der Arbeit eines Schriftstellers. Ein Schriftsteller, der politisch oder literarisch Stellung nimmt, sollte nur mit den Mitteln handeln, die die seinen sind – mit dem geschriebenen Wort. Alle Auszeichnungen, die er erhält, können seine Leser einem Druck aussetzen, den ich für unerwünscht halte. Es ist nicht dasselbe, ob ich „Jean-Paul Sartre“ oder „Jean-Paul Sartre, Nobelpreisträger“ unterzeichne.”
Sartre in seiner Begründung der Ablehnung

Die vollkommene Unabhängigkeit. Die Bereitschaft, mit allen zusammenarbeiten, ganz egal, wie tief der Graben zwischen dem Westen oder dem Osten zu dieser Zeit gewesen sein mag. Eine Unabhängigkeit, die so weit gefasst ist, die so viel Verzicht erfordert, dass ich sie als eine faszinierende Metastrategie bezeichnen mag.

Nun habe ich angefangen Sartre zu lesen, und zwar seinen Roman “Der Ekel”, der ihn auf einen Schlag berühmt machte. Danach war ich noch faszinierter von ihm als zuvor.

“Wie fern von ihnen ich mich fühle, von der Höhe dieses Hügels herab. Es kommt mir vor, als gehörte ich zu einer anderen Spezies. Sie kommen aus den Büros, nach ihrem Arbeitstag, sie schauen zufrieden die Häuser und die Grünplätze an, sie denken, daß es ihre Stadt ist, ein «schönes bürgerliches Gemeinwesen». Sie haben keine Angst, sie fühlen sich zu Hause. Sie haben nie etwas anderes gesehen als das gezähmte Wasser, das aus den Hähnen läuft, als das Licht, das aus den Glühbirnen strahlt, wenn man auf den Schalter drückt, als entartete, gekreuzte Bäume, die man mit Astgabeln stützt. Sie erhalten hundertmal am Tag den Beweis, daß alles mechanisch abläuft, daß die Welt starren und unwandelbaren Gesetzen gehorcht. Die der Leere überlassenen Körper fallen alle mit der gleichen Geschwindigkeit, der Park wird im Winter täglich um 16 Uhr, im Sommer um 18 Uhr geschlossen, Blei schmilzt bei 335 Grad, die letzte Straßenbahn fährt um 23 Uhr 5 vom Hotel de Ville ab. Sie sind friedlich, ein bißchen mißmutig, sie denken an morgen, das heißt lediglich an ein neues Heute; Städte verfügen nur über einen einzigen Tag, der völlig gleich an jedem Morgen wiederkehrt. Kaum, daß man ihn an den Sonntagen etwas herausputzt. Diese Idioten. Es geht mir gegen den Strich, zu denken, daß ich ihre feisten und saturierten Gesichter Wiedersehen werde. Sie machen Gesetze, sie schreiben populistische Romane, sie verheiraten sich, sie haben die maßlose Dummheit, Kinder zu machen. Unterdessen hat sich die große, verschwommene Natur in ihre Stadt eingeschlichen, sie ist überall eingesickert, in ihre Häuser, in ihre Büros, in sie selbst. Sie rührt sich nicht, sie verhält sich still, und sie, sie sind mitten drin, sie atmen sie ein und sehen sie nicht, sie bilden sich ein, sie sei draußen, zwanzig Meilen von der Stadt entfernt. Ich sehe sie, diese Natur, ich sehe sie … Ich weiß, daß ihr Gehorsam Trägheit ist, ich weiß, daß sie keine Gesetze hat: was sie für Beständigkeit halten … Sie hat nur Gewohnheiten und kann diese morgen ändern.”
Sartre in “Der Ekel”

Schreibt das ein ironisch-distanzierter Beobachter der Menschheit? Ist das eine wohlformulierte Verachtung der Bourgeoisie? Einfach nur eine für den von ihm begründeten Existenzialismus typische Beobachtung? Für mich ist Sartre vor allem ein genialer Beobachter der Menschen. Präzise, frei von jedem Kitsch, erhaben über das Alltägliche. Vielleicht würde er selbst sagen: Angeekelt von der Trivialität des Alltäglichen.