Selbstkritische Betrachtungen 15 | Faszinierende Literatur 7

30Jan
2022

Unlängst habe ich Dostojewskis “Aufzeichnungen aus dem Kellerloch” gelesen, ein großer Ausbund an Misanthropie, absurder Komik, aber auch voller kluger Bemerkungen eines karrieretechnisch und sozial gescheiterten Intellektuellen, der aus seiner Kellerwohnung die Welt und die Menschen studiert. Gleich zu Beginn lässt er seiner Abneigung über die “charakterfesten Tatmenschen” freien Lauf:

Jetzt friste ich die Tage in meinem Winkel, indem ich mich selbst mit dem böswilligen und zugleich sinnlosen Trost aufstachle, daß ein kluger Mensch ernsthaft überhaupt nie etwas werden kann und nur ein Dummkopf etwas wird. Ja, der Mensch des neunzehnten Jahrhunderts muß, er ist dazu sogar moralisch verpflichtet, ein im großen und ganzen charakterloses Wesen sein; dagegen ist ein charakterfester Mensch, ein Tatmensch – ein im großen und ganzen beschränktes Wesen.

So paradox diese Aussage klingen mag, mich hat sie zum Nachdenken über den Sinn und Unsinn unseren Handelns gebracht. Je intellektuell anspruchsvoller unserer Denken und Arbeiten ist, um so spezialisierter, um so kleinteiliger ist es. Ist es gut und richtig, ein kleines Zahnrad zu entwickeln, eine Zeile Programmcode zu schreiben, die vielleicht der harmlosen Unterhaltung dient oder die, in der Gesamtwirkung betrachtet, die Ungleichheit auf der Welt erhöht? Dreht sich das kleine Zahnrad vielleicht in einer Kampfdrohne – und wenn ja, kämpft diese dann auf der richtigen Seite der Geschichte? Ist wissenschaftlicher und technischer Fortschritt grundsätzlich gut, oder hat dieser erst recht zur Klimakrise und Ressourcenknappheit beitragen?

Wäre es besser, lieber nichts an Taten zu vollbringen, die den Lauf der Welt tatsächlich verändern? Sollten wir nicht einfach bei einem guten Glas Wein das Leben genießen und uns an unserer Faulheit erfreuen? Für Dostojewski ein verlockender Gedanke:

»Ein Faulpelz!« – aber das ist doch Titel und Bestimmung, das ist doch eine Karriere, meine Herrschaften. Scherz beiseite, so ist es! Dann bin ich rechtmäßiges Mitglied eines renommierten Vereins und achte mich unablässig. Ich kannte einen Herrn, der sein Leben lang stolz darauf war, sich auf Lafitte-Weine zu verstehen. Er hielt das für einen ausgesprochenen Vorzug und zweifelte nie an sich selbst. Er starb nicht nur mit ruhigem, sondern mit einem triumphierenden Gewissen und war damit vollkommen im Recht. Denn hätte auch ich Karriere gemacht, ich wäre ein Faulpelz und Vielfraß geworden, doch beileibe kein gewöhnlicher, sondern einer mit Sinn für das Schöne und Erhabene.

Eine faszinierende Passage. Da haben Dichter und Denkerinnen schon tausende Seiten über die Jahrhunderte hinweg über das Erhabene philosophiert und dann erklärt der Kommentator aus dem Kellerloch mal nebenbei den Weinsommelier für einen Menschen mit Sinn für das Erhabene – weil er ein Faulpelz und kein Tatmensch ist. So absurd das klingen mag, ich kann mir jenen Menschen vorstellen, der am Ende seines Lebens sich des Umstands erfreut, niemals zu wenig Genuss im Leben verspürt zu haben, und der sich niemals zweifelnd fragen wird, ob er sich vielleicht für die falsche Seite der Geschichte eingesetzt hat. Und doch kann ich mir unmöglich vorstellen, dieser Mensch zu sein.

Äußerst spannend finde ich auch Dostojewskis Ansichten zum freien Willen:

Und das alles aus einem absolut unwesentlichen Grunde, den zu erwähnen überhaupt nicht lohnt: nämlich deshalb, weil der Mensch immer und überall, wer er auch sei, stets so zu handeln vorzieht, wie er will, und durchaus nicht so, wie ihm Vernunft und Vorteil diktieren; wollen aber kann man auch gegen den eigenen Vorteil, zuweilen ist es unbedingt notwendig (das ist nun meine Idee). Sein eigenes uneingeschränktes und freies Wollen, seine eigene, selbst die allerausgefallenste Laune, seine Phantasie, die zuweilen bis zur Verrücktheit verschroben sein mag – das, gerade das ist ja jener übersehene allervorteilhafteste Vorteil, der sich nicht klassifizieren läßt und durch den alle Systeme und Theorien fortwährend zum Teufel gehen.

Dass der freie Wille sich eben dadurch auszeichnet, dass der Mensch kein spieltheoretischer perfect reasoner ist, empfinde ich als faszinierende Idee. Das psychologisch noch gut erklärbare Ultimatumspiel, aber vielleicht auch der politische Siegeszug der Populisten, die von Leuten gewählt werden, die ganz offensichtlich Nachteile von der Regentschaft von bspw. Trump oder Johnson haben: Lässt sich all das dadurch erklären, dass es ein innerstes Bedürfnis einer Person ist, so zu handeln, wie sie es selbst will und nicht, wie es “Vernunft und Vorteil” (oder die Wissenschaft) gebietet? Eine kindliche Trotzreaktion, die den Menschen zum Menschen macht, aber “Systeme und Theorien” scheitern lässt? Ist es die Unvernunft, die den Menschen erst zum Menschen macht und das Leben damit spannend und unberechenbar macht?

Zweifelnd blickt Dostojewski auch auf das “Lebendige”, das er im Individuum sucht und dort nicht finden kann:

Wir wissen ja nicht einmal, wo jetzt das Lebendige lebt, was es ist, wie es heißt! Laßt uns allein, ohne Buch, und wir werden sofort irre, unschlüssig – wissen nicht wohin, an was uns halten, was lieben und was hassen, was achten und was verachten! Es ist uns ja sogar lästig, Mensch zu sein – ein Mensch mit wirklichem eigenen Fleisch und Blut; wir schämen uns dessen, halten es für eine Schmach und trachten lieber danach, irgendwelche phänomenale Allgemeinmenschen zu sein.

Wer auch immer nach erhabenen oder vielleicht auch “phänomenalen” Menschen sucht, der sucht nach Individuen, die aus sich heraus strahlen, und die für sich selbst stehen. Aber was ist das Werk einer Künstlerin ohne die Tausenden von Künstlern vor ihr, von denen sie sich hat inspirieren lassen? Wie lassen sich die Leistungen eines Wissenschaftlers noch würdigen (das wird bei den Nobelpreisen derzeit auch intensiv diskutiert), wenn diese auf hunderten Arbeiten anderer Wissenschaftlerinnen unmittelbar aufbauen? Was wäre dieser Blog ohne die ganzen Zitate aus der Literatur und aus der Tagespresse? Schlaue Ideen und Gedanken eines Individuums existieren nur innerhalb eines sozialen Umfelds, in dem wir diese Ideen teilen und kreativ werden durch das ständige Rekombinieren von Ideen und Gedanken. Wenn allerdings kreatives Erschaffen zu 99% aus Transpiration und 1% Inspiration besteht, wie Thomas Alva Edison einst sagte, ist die Kreativität dann etwas, was den Tatmenschen vorbehalten bleibt, würde man Dostojewski fragen? Spannende Fragen.