Selbstkritisch blicke ich heute vor allem deswegen auf diesen Blog, weil es morgen über ein Jahr her wäre, dass der letzte Beitrag geschrieben wäre. Ein Jahr keine Beiträge, das war immer so ein Zeitraum wo ich mir bei anderen Blogs sicher war, dass diese Seite nicht mehr aktiv ist. Ein Jahr, in dem bei mir so viel passiert ist, das man Bände damit füllen könnte. Und doch fand ich in dieser Zeit keine Ruhe und Muße, etwas zu schreiben, was ich hier an dieser Stelle veröffentlichen wollte.
Es ist keineswegs so, dass ich nicht mehr schreiben würde. Es sind viele, viele Seiten eines privaten Tagebuchs entstanden (aber dann doch am PC, so analog, als dass ich so etwas per Hand schreiben würde, bin ich dann doch nicht unterwegs). Nichts oder fast nichts daran ist zur Veröffentlichung bestimmt. Aber zumindest eine Literaturempfehlung, die ich zuletzt darin notiert habe, möchte ich hier auch der Leserschaft (falls nach so langer Sendepause noch jemand hier drauf schaut) samt einiger Zitate zur Verfügung stellen.
Empfehlen möchte ich Wolfgang Herrndorf, Arbeit und Struktur, passenderweise auch ursprünglich ein Weblog, welches aber dann posthum als Buch veröffentlicht wurde (und hier noch mehr Spannendes über ihn). Ein beeindruckendes, bedrückendes und auf jeden Fall perspektivenerweiterndes Buch. Ein Mensch, der eine unglaubliche Energie zum kreativen Erschaffen besitzt, die ihm aber nach und nach durch ein Glioblastom, einen bösartigen Hirntumor, genommen wird. Ein Schriftsteller, ein unglaublich belesener Mensch und ein radikaler Atheist. Man erzählt sich landläufig gerne, dass am Ende des Menschen alle zumindest ein wenig gläubig werden. Ein schönes Märchen für die Gläubigen, die darin so eine Art “Glaubensbeweis” sehen. Nicht so Herrndorf. Vielmehr scheint der reine, rationale und vernünftige Geist etwas sehr hoffnungsvolles, haltgebendes für ihn zu sein. Mit der Fähigkeit, Sinn und Unsinn zu unterscheiden, scheint er sich immer wieder der verbliebenen Klarheit seines Geistes zu versichern.
So ärgert er sich in herrlicher Komik über einen Papstbesuch in Berlin (2011, zur Zeiten Georg Ratzingers als Gottes Stellvertreter auf Erden):
Daß eine Gesellschaft es sich leisten kann, eine Millionenstadt einen Tag lang lahmlegen zu lassen durch den Besuch eines Mannes, der eine dem Glauben an den Osterhasen vergleichbare Ideenkonstruktion als für erwachsene Menschen angemessene Weltanschauung betrachtet, erstaunlich. Und herzlichen Dank. In hundert Jahren kennt dich kein Mensch mehr, römischer Irrer. Mich schon.
Wolfgang Herrndorf, Arbeit und Struktur, Kapitel “Zwanzig”
Im weiteren Verlauf seiner Erkrankung spielt er immer wieder Möglichkeiten der Sterbehilfe und eines Suizids durch (den er schließlich auch begeht) und ist dementsprechend wenig glücklich über die konservativen Ansicht in Deutschland, insbesondere aus dem religiösen Milieu:
Themenwoche Sterben auf der ARD. Komplett Enthirnte wie Margot Käßmann versuchen, ein freies Leben gelebt habenden Menschen das Recht auf Freiheit im Tod zu bestreiten.
Wolfgang Herrndorf, Arbeit und Struktur, Kapitel “Vierunddreißig”
Margot Käßmann, wer war das nochmal? Sie war mal Ratsvorsitzende der evangelischen Kirche in Deutschland, also so eine Art evangelische Päpstin mit eingeschränktem Wirkungsradius. Sie ist von allen ihren Ämtern im Februar 2010 zurückgetreten, als sie mit über 1.5 Promille Blutalkoholkonzentration von der Polizei gestoppt wurde, als sie eine rote Ampel überfahren hatte. Kurz davor, in ihrer Neujahrspredigt dozierte sie “Nichts ist gut in Afghanistan.” weil die amerikanische Besatzung irgendwie nicht in ihr religiös-verschrobenes Weltbild passte. Ob sie das mal all den Mädchen und jungen Frauen erklärt hat, die jahrelang zu Schulen und Universitäten gehen konnten, bis die amerikanischen Militärs abgezogen sind und die Taliban die Frauen im Land de facto versklavt haben?
Man weiß es nicht. Aber man weiß, dass Alkohol (im Gegensatz zu bspw. psychedelischen Drogen) nicht nur stark abhängig macht, sondern auch stark neurotoxisch wirkt. Zwar mag “komplett enthirnt” eine stilistische Übertreibung des Autors sein, aber ganz aus der Luft gegriffen scheint es mir auch nicht zu sein.
Aber nicht nur die von transzendentalen Erweckten erregen keinen Gefallen beim Autor. Auch all die esoterisch orientierten Mediziner, die mit zweifelhaften Tipps ihm zu helfen glauben, stoßen auf sein großes Missfallen:
Hier bittet gleich der nächste um Entzug der Approbation:
Wolfgang Herrndorf, Arbeit und Struktur, Kapitel “Dreiunddreißig”
Sehr geehrter Herr Herrndorf, es gibt außerhalb der klassischen Medizin einen Ansatz zur Heilung von Glioblastomen: Erzeugung einer Ketose durch eine spezielle Diät, kombiniert mit Omega-3-Fettsäuren und schwefelhaltigen Aminosäuren. Dazu liegen Berichte vor.
Mit freundlichem Gruß, (…), Facharzt für Allgemeinmedizin.
Und damit endet die kleine Dokumentation auch schon wieder. Diese Irren sind eh nicht aufklärbar, ich bin schon froh, meinen Briefkasten nicht mehr von Anhängern Ryke Geerd Hamers verstopft zu finden.
Aber nebst all der Kritik an den fragwürdigen Hilfsangeboten, dem Gesundheitssystem, der Gesellschaft und ihrem Umgang mit den Themen Tod, Krankheit und Selbstbestimmung, sind es auch viele, viele literarische Referenzen, die das Buch lesenswert, unterhaltsam und bedrückend machen. Ein kraftvolle Sammlung an Beobachtungen, die einem den Wert des Lebens und der Gesundheit, aber auch den Wert der Autonomie und Selbstbestimmung, sehr klar vor Augen führt.