Wenig faszinierende Strategien 26 | Freedom is not for free 2

24Dec
2021

Freiheit ist ein großes Wort, vielleicht eines der größten Wörter, die es gibt. Die Phrase “Freedom is not for free” hat sich mir tief eingeprägt im War Memorial Museum in Seoul, Südkorea, als die aus dem Koreakrieg gewonnene Erkenntnis, dass man (manchmal auch mit Waffengewalt) für seine Freiheit kämpfen muss; jedenfalls dann, wenn der kommunistische Norden versucht, einen zu überfallen. Dass im Wettstreit dieser beiden Systeme nur eines davon gewisse Grundfreiheiten für das Individuum garantieren kann, was politische Meinungen, wirtschaftliches Erfolgsstreben oder die persönliche Lebensentfaltung angeht. Dass es diese Freiheit nicht umsonst gibt.

Freiheit ist ein strapazierter Begriff in den westlichen Gesellschaften, die so frei sind an Regeln und Vorschriften, wie wahrscheinlich nie ein Individuum auf einem zivilisierten Siedlungsgebiet in der Geschichte je war. Freiheit hat zu Auswüchsen geführt, die vielen kritischen Beobachter:innen im links-grünen Milieu zuwider sind. Da ist der Raubbau an natürlichen Ressourcen, die Verschmutzung unserer Umwelt, aber auch die Tatsache, dass die Freiheit des obersten Drittels (oder Fünftels? Zehntels?) von der Unfreiheit des untersten Drittels erkauft wird. Die Gutverdienenden können sich frei davon machen, Einkäufe zu schleppen, zu kochen oder Reparaturarbeiten im Haus auszuführen, das unterste Drittel wird per App mit Paketen und Essen zu den Kunden beordert, per Armband getrackt, oder auch mal in einen Wirbelsturm geschickt –  unter der ständigen Drohung des Jobverlusts. Die Gleichung, dass der Kapitalismus allen die Freiheit für alle gebracht hat, war ein frommer Wunsch (auch von mir, vor langer Zeit), aber sie ist nicht aufgegangen.

Seit Corona hat der Begriff “Freiheit” noch einmal eine ganz andere Dimension bekommen. Da wäre zuallererst die Freiheit, nicht mit dem Virus so leicht in Kontakt kommen zu müssen, weil man (wie ich) seit fast zwei Jahren die allermeiste Zeit im Home Office arbeitet, weil man die Möglichkeit zum Individualverkehr besitzt, und sich weder in Büros noch in öffentlichen Verkehrsmitteln aufhalten muss. Aber natürlich geht es auch um unsere Freiheiten, uns in sozialen Gruppen treffen zu dürfen, Sporteinrichtungen zu besuchen oder einfach nur Party zu machen. Die Äußerung von Jens Spahn “Es gibt kein Grundrecht auf Party” hat Constantin van Lijnden im (hörenswerten!) FAZ-Einspruch-Podcast so schön gekontert mit “Natürlich gibt es das und das nennt sich allgemeine Handlungsfreiheit!” und auch noch einen längeren Kommentar zum Thema geschrieben. Leider sind die Zeiten vorbei, in denen die Aussage richtig war, dass Geimpfte und Genese tun und lassen können was sie wollen, ohne zum Pandemieverlauf beizutragen. Ob die Maßnahmen, so wie sie jetzt sind, angemessen sind oder nicht, vermag ich nicht zu beurteilen. Ich mag mich nicht einreihen in die Millionen von Hobby-Virolog:innen, die gleich den Hobby-Fußballbundestrainern zu WM-Zeiten, von der heimischen Couch aus alles besser zu wissen glauben. Nur so viel: Politik muss erklärbar bleiben. Wenn es so weit kommt, dass in einem Land wie der Schweiz die Intensivplätze voll sind und bereits der Schweizer Wirtschaftsverband für stärkere Corona-Maßnahmen wirbt, stelle ich die Erklärbarkeit in Frage.

Ob man nun für mehr oder weniger einschneidende Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung ist – solange man damit Grundrechte und Grundfreiheiten einschränkt (was, wenn auch in geringerem Maße, sogar in Schweden und der Schweiz passiert), muss man diese Einschränkungen auch erklären. Eine Verklärung unserer Handlungsfreiheit zum vernunftgeleiteten, verantwortungsbewussten Bürger, der es als seine Freiheit sieht, sich vom Gemeinwesen seine Freiheit abnehmen zu lassen, ist eine wenig faszinierende Strategie. Jan Ross schreibt in einem wunderbaren Kommentar in der Zeit dazu:

Worte müssen einen klaren Sinn haben: Freiheit ist Freiheit. Sie ist genau das, was der angeblich anachronistische Freiheitsbegriff des Altliberalismus sagt: das Fehlen von Beschränkung und Bevormundung, die Möglichkeit, nach eigenen Vorlieben, Einsichten und Entscheidungen zu handeln. Der Anspruch, stattdessen einen anderen, umfassenderen, besseren Freiheitsbegriff zu besitzen, ist Schummelei und Etikettenschwindel.

Es mag in Ordnung sein, keine Veranstaltungen mit mehr als 50 Leuten, oder auch keine persönlichen Treffen mit mehr als zehn Leuten, vielleicht auch keine Treffen von mehr als zwei Haushalten (alles darunter halte ich persönlich für einen psychosozialen Irrsinn) zu erlauben – je nach Pandemielage, je nach politischer Ausrichtung der Regierungsparteien. Aber es gehört für mich dazu, zu sagen: Wir werden nun in unserer Freiheit eingeschränkt, und dies geschieht, weil hier Grundrechte gegeneinander abgewogen wird. Das Recht auf Party der einen wird gegen das Recht auf die Unverletzlichkeit der Person des anderen abgewogen, der bei einem Schlaganfall oder Herzinfarkt ein freies Intensivbett samt geschultem Pflegepersonal vorfinden möchte. Eine solche Abwägung, eine solch klare Benennung der Rechtsgüter macht für mich die Erklärbarkeit der Politik aus. Und sie steht für einen Freiheitsbegriff, der dem Namen gerecht wird und nicht die “Freiheit zur Unfreiheit” einschließen darf. So wie ein Toleranzbegriff eben nicht die Toleranz vor den Intoleranten inkludiert.

Was die Freiheit des Intensivbetts samt dem geschulten Personal angeht: Viel ist geschrieben worden über die schlechten Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte, wenige haben es so gut auf den Punkt gebracht wie Janko Tietz in seiner Kolumne auf Spiegel online:

Nach allem, was man hört, wird [die Regierung] Folgendes verkünden: »Die Bundesregierung sagt am heutigen Tag, dass wir nicht zulassen werden, dass die Coronakrise zu einer Krise des gesamten Gesundheitssystems wird. Wir sagen den Beschäftigten des Gesundheitssektors zu, dass wir alles Geld in die Hand nehmen, um die Belastungen zu lindern. […].« Haha, schön wär’s, Sie merken schon, das wird nie passieren.

Ganz ähnliche Worte sind in der Bankenkrise 2008 tatsächlich gefallen. Whatever it takes, die Einlagen sind sicher. Natürlich gab es gute Gründe, das Bankensystem zu retten, aber es hätte auch gute Gründe gegeben, die massenhafte Abwanderung der Pflegekräfte in andere Berufe zu stoppen. Geld in die Hand zu nehmen. Aber die Mitarbeiter:innen in den Bankentürmen gehören eben zum obersten Zehntel, die Pflegekräfte zum unteren Drittel. Nicht alle werden im politischen Berlin gleichermaßen berücksichtigt. Zumindest Karl Lauterbach, der Gesundheitsminister, der durch Social Media in sein Amt gewählt wurde, wie Micky Beisenherz zuletzt in seinem Podcast spekulierte, drückt nun seine Wertschätzung in seiner Weihnachtsansprache an die Pflegekräfte aus. Was auch immer man von ihm politisch hält, ich nehme ihm das voll und ganz ab. Frohe Weihnachten!

Ende und Neuanfang 8 | Das Drama der Menschheit 14

19Oct
2021

Der Sommer neigt sich dem Ende entgegen, das Herbstlaub wird goldfarben und ich bin in der leicht sentimentalen Stimmung, in der Zeit ein wenig zurückblicken zu wollen. Das Ende und der Neuanfang bezieht sich dabei nicht etwa auf das Weltgeschehen oder gar ein konkretes Ereignis (wie die Wahl zum deutschen Bundestag), sondern ausnahmsweise mal ganz persönlich auf mein Leben. Eine ziemlich exakt fünf Jahre währende Epoche ist vor kurzem zu Ende gegangen – mein erster richtiger Job (wenn man das Doktorandendasein zuvor mal außen vor lässt) ist passé. Ich blicke zurück auf meine ersten wirklich großen C++ Projekte mit mehreren hunderttausend Codezeilen, das erste Mal ernsthaftes Arbeiten unter Linux und eine kollaborative Arbeit in einem agilen Team, die mal mehr oder weniger gut funktioniert hat. Auf jeden Fall habe ich unglaublich viel lernen dürfen, was sehr schön war. Hach, habe ich vor dem Arbeiten unter Linux die Visual Studio Entwicklungsumgebung von Microsoft (zuerst mit Visual Basic, dann mit Visual C++) einst geliebt. Und heute frage ich mich, warum diese Firma aus Redmond immer noch so viel verkauft. Wer arbeitet wirklich gerne mit Outlook und Office, wo es doch an freier Software so viele bessere Alternativen für Dokumente und Mails gibt? Wie auch immer, ich habe nun im neuen Job wieder einen Arbeitslaptop mit Windows und komme auch damit klar.

Schlagen wir den Bogen von quasireligiösen Linux vs. Windows Streitfragen zu ernsthafteren Themen: Ich recherchierte im Arbeitskontext zur richtigen Verwendung von Threads im Qt-Framework, stoße auf diesen erhellenden Blogbeitrag von einer Maya Posch und lese wenige Klicks weiter einen Ausschnitt aus ihrer Biographie der einen bestürzt zurücklässt: Intersexualität ist eben kein Thema, dass es nur in dämlichen Toilettenwitzen einer Interimsparteivorsitzenden einer sogenannten Volkspartei gibt, sondern das auch dramatische Biographien auslöst: Der Weg von Thijs Posch zu Maja Posch ging über dutzende Klinikbesuche, einen Suizidversuch und einen Ortswechsel von den Niederlanden nach Deutschland, weil D – man höre und staune – in den frühen 10er Jahren in den Fragen der Anerkennung Intersexueller tatsächlich weiter war als NL.

Gut, der vorangehende Abschnitt hat nichts mit mir zu tun. Aber diese Geschichte passt leider viel zu gut zum Drama der Menschheit. Binarität mag gut und praktisch sein für die Programmierung von Maschinen, aber in den Geschlechterfragen sein Weltbild auf zwei unveränderliche Geschlechter festzulegen, ist eine ziemlich bornierte Beschränkung. Immerhin bin ich mit solchen Fragen zumindest indirekt früh in Berührung gekommen als jemand, der in seiner Jugend zeitweise gerne die sehr düstere Musik von Anna-Varney (in ihrem Projekt Sopor Aeternus) gehört hat, die ihre Intersexualität in Liedern wie “Drama der Geschlechtslosigkeit” thematisiert. Ich höre heute solche Musik nur noch selten. Die großartige Melancholie in dieser Kunst spricht mich mittlerweile kaum mehr an. Zuviel Optimismus, Grundzufriedenheit und vielleicht auch einfach stabile Verhältnisse sind in mein Leben eingekehrt, als das ich mich noch in solchen Stimmungswelten wiederfinde.

Mein Optimismus erstreckt sich auch darauf, dass nach einem “normalen” Post-Corona-Sommer nun auch ein relativ normaler Post-Corona-Winter folgt. Dabei will ich mich über den letzten Winter gar nicht beschweren, ich war so viel in den Bergen wie nie zuvor, auch Tages-Skitouren waren jederzeit möglich. Dennoch werden die bayerischen Alpen auf Dauer ein wenig eintönig und ich hoffe dementsprechend, auch die schweizerischen und österreichischen Berge auf Tourenskiern erkunden zu können, wenn sie bald in malerisches Weiß gekleidet sein werden. In der ewigen Alpinistenfrage “Sind die Berge im Sommer oder im Winter schöner?” votiere ich für letzteres und freue mich gleichermaßen über die letzten Sommertouren, bei denen man nun schon die Schneefallgrenze kratzt (auf der Zugspitze bereits im September), wie über den Beginn der Wintersaison. Auf den Neuanfang!

Faszinierende Literatur 6 | Wenig faszinierende Erkenntnisse 22

09Sep
2021

Unlängst habe ich das zur Weltliteratur zählende Werk “Rot und Schwarz” von Stendhal gelesen (mangels Kenntnis der französischen Sprache auf Deutsch). Es ist eine wunderbare Reise durch die Welt der höfischen und klerikalen Heuchelei. Der Begriff der Liebe spielt eine ganz zentrale Rolle und doch behaupte ich, dass wahre Liebe an keiner Stelle vorkommt. Stattdessen lesen wir von einem Begriff der Liebe, der Stolz und Eitelkeit bedient sowie von einer Liebe, die zu Karrierezwecken nützlich erscheint. Heute würde man dies wohl als “hochschlafen” abqualifizieren, jedoch durch einen männlichen Protagonisten (Julian), der sich Macht und Einfluss sichern will, in dem er sich jeweils an die am höchsten stehende Dame des Hauses heranmacht. Welch emanzipatorischer Akt, könnte man retrospektiv sagen.

Himmelweit entfernt von der Ungebundenheit des Naturmenschen, gehörte Julian bereits zu den Sklaven der Überkultur, denen die Liebe nichts ist als eine langweilige, konventionelle Sache. Eitel und kleinlich sagte er sich: »Ich bin es mir unbedingt schuldig, bei dieser Frau zum Ziele zu kommen. Sollte ich je berühmt werden, und es würfe mir jemand diesen armseligen Hauslehrerposten vor, so kann ich andeuten, die Liebe hätte mich in diese Stellung geführt.«

Er kommt, zumindest zwischenzeitlich, zum Ziel bei seiner Arbeitgeberin und strebt doch nach “Höherem”. Nach was genau, kann man schwer sagen, aber man kann es sich wohl so ähnlich wie bei einem modernen Karrieristen vorstellen, der immer auf dem Weg zur nächsten Beförderungsstufe ist. Nur seine Mittel sind andere: “Liebe” in Form eines psychologischen Schachspiels, dass diejenige (oder derjenige) verliert, die zuerst ihre Zuneigung zeigt. Von wahrer und langfristiger Liebe scheint Stendhal ohnehin wenig zu halten:

Die moderne Ehe hat sonderbare Begleiterscheinungen. Ist vor der Heirat Liebe vorhanden, so stirbt sie sicher in der Langweile des ehelichen Beieinanders. Zumal bei Eheleuten, die reich genug sind, um nicht arbeiten zu müssen, stellt sich gründlicher Widerwille gegen das geruhsame Eheglück ein. Und nur die phantasielosen Frauen gehen an Liebschaften und Liebeleien vorbei, anstatt sich kopfüber in sie zu stürzen.

Moderner und etwas positiver interpretiert könnte man im Lob der “Liebelei” schon fast so etwas wie eine positive Perspektive hin zur Beziehungsanarchie sehen. Ein Konzept, dass allerdings in den strengen Sitten des beginnenden 19. Jahrhunderts dann doch noch nicht als plausibles Szenario denkbar war. Stattdessen scheint Eifersucht bei Stendhal die einzig wahre Triebfeder der (aus meiner Sicht) unwahren Liebe zu sein.

Auch soziologisch gesehen, enthält das Werk die ein oder andere wenig faszinierende Erkenntnis. Hochaktuell fand ich die Feststellung:

Urbanität ist nichts als die überlegene Unfähigkeit, sich über die schlechten Manieren andrer zu ärgern.

Auch wenn sich die “Urbanität” hier auf das Leben der adeligen Gesellschaftsschicht in Paris vor etwa 200 Jahren bezieht, so könnte man sicherlich eine eben solche Kritik an den Hipstermilieus der modernen Großstädte formulieren, wobei die “schlechten Manieren” dann eher die landläufig-traditionellen Wertevorstellungen sind, die von einer liberalen Elite abgelehnt werden. Bei Stendhal wird mit diesem Satz die ganze Heuchelei der “guten Gesellschaft” wunderbar pointiert zusammengefasst. Etwas ausführlicher erkennt der Protagonist am Ende seiner Reise:

»Ich habe mich durch den Schein narren lassen«, sagte er sich. »Sonst hätte ich erkennen müssen, daß es in der sogenannten guten Gesellschaft von Biedermännern vom Genre meines Vaters und von gerissenen Halunken vom Schlage der beiden Zuchthäusler wimmelt. Je mehr sie zu essen und zu trinken haben, um so mehr protzen sie mit ihrer anständigen Gesinnung und ihrer Ehrlichkeit. Und wenn sie Geschworene sind, so verurteilen sie von oben herab einen armen Schlucker, der einen silbernen Löffel genommen hat, um nicht zu verhungern. Gilt es aber, ein Ministerportefeuille zu verlieren oder zu gewinnen, dann fallen diese Ehrenmänner des Salons in genau die nämlichen Verbrechen wie jene Zuchthäusler. Es gibt kein natürliches Recht. Das ist veralteter Blödsinn, albernes Gerede von Staatsanwälten, deren Vorfahren selber Gauner waren. Es gibt nur ein Recht: die Macht, die diese oder jene Handlung unter Strafandrohung verbietet. […]«

Natürlich teile ich diese vollständige Absage an den Rechtspositivismus nicht. Dennoch muss man sich fragen, wie viel weiter wir 200 Jahre wirklich sind, wenn nach wie vor deutlich mehr People of Color in Amerikas Gefängnissen sitzen als Weiße oder noch keiner der Protagonisten des Cum-Ex-Betrugs in Deutschland verurteilt wurde.

Wenig faszinierende Strukturen 2 | Faszinierende Metastrategien 20

22Jul
2021

Seit ich Yuval Noah Hararis kurze Geschichte der Menschheit gelesen habe, beginne ich an den vermeintlichen Errungenschaften der neolithischen Revolution zu zweifeln. Das Leben als Nomade, so seine Theorie, war abwechslungsreicher und weniger beschwerlich als das sesshafte Leben. Nur weil letzteres für eine höhere Anzahl an Nachkommen sorgte, hat es sich durchgesetzt. Nach der Lektüre von Female Choice ist mir noch einmal deutlich klarer geworden, welch wenig faszinierende Strukturen als Kollateralschäden der Sesshaftwerdung entstanden sind.

“Die Zivilisation […] wurde, und hier liegt der entscheidende Punkt, ausschließlich von Männern nach ihren Bedürfnissen gestaltet. Und sie arbeiteten dabei an der Unterdrückung und Kontrolle eines biologischen Prinzips, das zuvor seit Millionen von Jahren gültig gewesen war: des Urprinzips der Partnerwahl, bei dem die Entscheidung, welches Männchen Sex hat, von den Weibchen abhängt – die Female Choice. Diese Unterdrückung – und damit auch die der weiblichen Bedürfnisse – ist das Fundament, auf dem die heutigen Staaten, politischen Systeme und Kulturkreise stehen.”
Meike Stoverock in “Female Choice”

Im Laufe der Sesshaftwerdung wurde der Mann der ewigen Rangkämpfe überdrüssig, die die Female Choice mit sich brachten und erfand die monogame Zweierbeziehung, die Sexualmoral, die hierarchische Gesellschaft. Während zuvor (und heute noch bei vielen Tierarten) 80 % der Weibchen nur 20 % der Männchen erwählten, mussten die übrigen 80 % der Männchen sich bei den übrigen 20 % der Weibchen versuchen, wovon die meisten leer ausgingen. Die Monogamie wurde von Männern erfunden, um sich die sexuelle Verfügbarkeit einer Frau zu sichern und sie setzte sich durch, weil sie geeignet war, möglichst viel Nachwuchs hervorzubringen. Doch nicht nur das:

“Darüber hinaus bringt die Ehe noch ein besonderes Schmankerl für den Mann mit. Sie installiert eine Art Minihierarchie: Mag der Mann auch in der Gesellschaft nicht an der Spitze stehen – solange er eine Frau und Kinder im eigenen Haus hat, gibt es einen Ort, an dem er der Chef ist.”

Wie stehen diese Jahrtausende alten Konzepte in Relation zu der angeblich so freien Welt, in der wir leben? Diese Konzepte haben sich bewährt, solange eine hierarchische Ordnung und viel Nachwuchs in einer Welt mit hoher Kindersterblichkeit die Kampfkraft des Stammes (bzw. später des Volkes) sicherten. Was brauchen wir von diesen Konzepten heute noch? Zumindest brauchen wir die monogamen Partnerschaften, die lebenslange Treue und die daraus oft resultierenden kinderreichen Familien in einer Welt mit dem drängenden Problem der Überbevölkerung bestimmt nicht mehr. Hierarchien jenseits demokratischer Legitimation, in Gestalt eines (zumeist männlichen) Familienoberhaupts oder klerikaler Autoritäten sind ein nicht mehr zeitgemäßes Konzept in einer freien Welt. Wenn wir Werte wie Freiheit und individuelle Lebensgestaltung ernst nehmen, dann sollten wir den bestehenden Beziehungsbegriff und die heutige (westliche!) Sexualmoral kritisch hinterfragen.

“Nicht-treue Beziehungsmodelle gibt es heute viele: von offener Beziehung über Polyamorie mit mehreren Liebespartnern oder Kernbeziehung und Nebenbeziehungen bis hin zu völliger Beziehungsanarchie, in der Sex mit anderen mal mit, mal ohne Verliebtheit, mal mit, mal ohne Beziehung, mal kürzer, mal länger vorkommt. Es gibt so viel mehr auf der Welt als das sesshaft-patriarchale Konstrukt der lebenslangen Treue. Natürlich können wir das nur entdecken, wenn wir Sexualität aus der Privatsphäre ins gut beleuchtete Tageslicht holen. Wenn wir anfangen, offen mit unseren Partnern, mit anderen Paaren und vor allem Frauen mit anderen Frauen über Lust zu sprechen.”

Die Rückkehr zur einer ursprünglicheren Sexualität halte ich für eine faszinierende Metastrategie und die Zivilisation hat hier noch einen weiten Weg vor sich. Nimmt man die biologischen Erkenntnisse zu Female Choice ernst, so wäre eine polyandrische Vielehe (d.h. eine Frau, die mehrere Männer hat) das eigentlich naheliegendere Konzept als die polygyne Vielehe, wie sie in einigen hierarchisch geprägten Kulturkreisen praktiziert wird. Warum praktiziert der Mensch als einziges Säugetier den Akt im Verborgenen? Man kann sich immerhin in Swingerclubs inspirieren lassen, wie eine freie und natürliche Sexualität aussehen kann, aber von einer breiten gesellschaftlichen Akzeptanz sind diese Möglichkeiten der Freizeitgestaltung noch weit entfernt.

Das lebenslange Treue in Form von exklusiver Sexualität der einzige Weg zum Glück ist, ist ein hartnäckiger Mythos, der von Filmen und Medien fleißig propagiert wird. Die wesentliche Motivation dafür, diese Erkenntnis nehme ich aus Stoverocks Buch mit, ist unsere männerzentrierte Gesellschaft, die diese Moral und Kultur installiert hat. Stoverock beschreibt weiter, wie sehr Reichtum und soziokultureller Rang der Männer entscheidend für deren Attraktivität sind und wie eine egalitärere Gesellschaft dazu beitragen könnte, die derzeitigen Hierarchien abzubauen. So weit stimmte ich ihr zu. Die Lösungsvorschläge einer Gesellschaft ohne Geld muten dann allerdings etwas idealistisch und wenig praxistauglich an. Es ist viel von gegenseitiger Wertschätzung und Gemeinschaftsgefühl die Rede. Hier frage ich mich, ob sie Harari gelesen hat, zu dessen Kernthesen es zählt, dass der Mensch evolutionär für kleine (Stammes-)gemeinschaften bis etwa 150 Personen sich gemeinschaftlich selbst verwalten kann. Oberhalb dieser Größe braucht man zumindest Polizisten und Richterinnen, um die Normen eines Gemeinwesens und einen zivilisierten Umgang miteinander durchzusetzen. Vermutlich braucht man auch ein Tauschmittel für Besitz, vulgo Geld. Nichtsdestotrotz sind ihre Vorschläge spannend zu lesen. Kreativität wird auf jeden Fall vonnöten sein, um die Rückkehr zur Female Choice unter gleichzeitiger Beibehaltung all der zivilisatorischen Errungenschaften zu gewährleisten.

Selbstkritische Betrachtungen 14 | Wenig faszinierende Strukturen 1

21Mar
2021

Auch im Jahr 2021, nach all den “Black Lives Matter”-Demonstrationen, in einer Zeit, in der der erste Schwarze Präsident Amerikas, Barack Obama, nun als Elder Statesman mehr geschätzt wird denn je (insbesondere im Vergleich zu seinem Amtsnachfolger) – der strukturelle Rassismus ist und bleibt ein Problem. Spätestens nach der Lektüre von “Alice Hasters: Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen aber wissen sollten” wird man unweigerlich zu dieser Erkenntnis gelangen (alle folgenden Zitate daraus).

“Vor allem ist es wichtig, eines zu verstehen: Es gibt keine Menschenrassen. Es gibt allerdings die Erfindung der Menschenrassen — die Rassifizierung. Sie dient dazu, eine Hierarchie zwischen Menschengruppen zu etablieren.”

Diese Erkenntnis mag in meiner linksliberalen Filterblase heutzutage nahezu banal klingen. Ich glaube, dass sie das über weite Teile der Gesellschaft nicht ist. Ich bin in einem Umfeld aufgewachsen, in dem ich niemanden einen aktiven Rassismus unterstellen möchte, aber in dem doch gewisse Klischees und fragwürdige Begrifflichkeiten nicht völlig verschwunden waren. Da wurden beispielsweise die unsäglichen Äußerungen einer Fürstin von Gloria von Thurn und Taxis zu übertragbaren Sexualkrankheiten in Afrika belustigt kommentiert “so etwas darf man eben nicht sagen”. Und genau deswegen ist so ein Buch so wichtig: Weil es nicht darum geht, was man “nicht sagen darf”, sondern, dass man ein Verständnis dafür entwickelt, welcher rassistische Unsinn immer noch in tradierten Klischees weiterlebt. Ist dieses Verständnis erst einmal gewonnen, wird man sich vielleicht weniger die Frage stellen, was man noch sagen darf, sondern was man eben einfach nicht mehr sagt, weil man selbst zu der Erkenntnis gelangt ist, dass es Unsinn ist.

Verständnis für das Alltagserleben Schwarzer Menschen (ich übernehme hier die Großschreibung wie im zitierten Werk) bekommt man jedenfalls, wenn man sich die unzähligen Diskriminierungserfahrungen zu Gemüte führt, die sie beschreibt:

“Wie damals, als ich dreizehn Jahre alt war und mit einer Freundin und ihrer Familie Urlaub auf Mallorca machte. An einem Tag gingen wir auf den Markt. Unter den Verkäufer*innen waren viele Deutsche. Wir machten Halt an einem Schmuckstand und inspizierten still die einzelnen Stücke, bis mich der deutsche Mann hinter dem Stand auf Englisch anbrüllte, ich solle abhauen. Er hielt mich für eine Diebin.
[…]
Du hast einen richtig schönen N**erpopo«, sagte einmal mein Kommilitone Martin zu mir, als wir eine Choreografie in engen Leggins übten. Es sollte ein Kompliment sein. Ich fühlte mich, als ob mir jemand ins Gesicht geboxt hätte, und konnte ihn nur geschockt anschauen.”

Ich denke, es ist schwer bis unmöglich sich als weißer heterosexueller Cis-Mann in solche unschönen Erfahrungswelten hineinzuversetzen. Vieles kann man im Leben verändern oder verstecken – die Sprache, die Religion, die Frisur. Die Hautfarbe (wie auch das Geschlecht) nicht. Und natürlich muss man sich fragen, welche wenig faszinierenden Strukturen am Werk sind, wenn der weiße (insbesondere weibliche) Körper in der Werbung mehr wert ist als der von Schwarzen:

“Serena Williams hatte 2013 ein Einkommen von 20 Millionen Dollar. Ihre weiße Konkurrentin Marija Scharapowa, die im selben Jahr gegen Williams verlor, verdiente mehr Geld — 29 Millionen Dollar. Denn sie bekam mehr Werbedeals, mehr Sponsoring. Schmuck und Uhren verkaufen sich anscheinend besser an einer weißen blonden Tennisspielerin als an einer Schwarzen Frau von Weltklasse mit breitem Kreuz und großen Oberschenkeln.”

Natürlich sollte man kritisch darüber nachdenken, welche rassistischen Stereotypen mit diesem Marktgeschehen in Verbindung verstehen. Abwegig wird es aus meiner Sicht allerdings, wenn die Fokussierung auf die Körperlichkeit im Leistungssport unter Generalverdacht gestellt wird:

“Dass Menschen überhaupt etwas zu Serena Williams’ Körper sagen, wenn es doch eigentlich um Tennis geht, ist ein weiterer Fall von gegendertem Rassismus. Im Tennis spielt Körperform keine Rolle.”

Hier stimme ich Alice Hasters einfach nicht mehr zu. Zur Vermarktung von Leistungssport gehört die Inszenierung ästhetischer Körper nun mal dazu – je nach Sportart mal mehr mal weniger. Man kann diesen Körperkult sehr kritisch sehen, ich sehe beispielsweise die gesamte Welt des Leistungssports extrem kritisch. Es ist eine Art der Unterhaltung, die viele Verlierer produziert, unter denen die es nicht bis an die Spitze geschafft haben, die Menschen von geistiger Betätigung abhält in den Jahren, in denen das Gehirn am lernfähigsten ist, und der Spitzensport hat (in absoluten Zahlen) ein noch größeres Problem an sexuellem Missbrauch hat als die Kirche. Aber das ist ein anderes Thema. Wer sich auf das Business des Leistungssport einlässt, der muss akzeptieren, dass Werbeeinnahmen wenig mit sportlichen Fähigkeiten, sondern vielmehr damit zu tun haben, wie man sich für ein breites Publikum vermarkten kann. In diesem Kontext spielt Körperform natürlich eine Rolle.

Die Debatte über kulturelle Aneignung finde ich ebenfalls schwierig. Ich erkenne das Problem des “White Washings” durchaus an:

“Kulturelle Aneignung hat jedoch nicht mit Hip-Hop angefangen und schon gar nicht mit den Kardashians. Der »King of Rock ’n’ Roll« heißt Elvis Presley, und Frank Sinatra wird bis heute als bester Jazzsänger aller Zeiten gefeiert, obwohl diese Musikrichtungen ohne Afroamerikaner*innen nicht entstanden wären. Schwarze Kultur durchläuft seit Jahrzehnten ein White Washing — Schwarze Akteur*innen werden durch weiße Menschen ersetzt, die es dann in den Mainstream schaffen, Geld verdienen und Einfluss auf die Gesellschaft haben.

Das ändert aber erst mal nicht daran, dass Kultur dadurch entsteht, dass verschiedene Einflüsse stetig neu kombiniert werden. Dass künstlerische Ideen von Schwarzen Künstler:innen sich von von weißen Menschen besser vermarkten lassen, deutet natürlich auf strukturellen Rassismus hin, aber alleine die Adaption eines Musikstils kann man in meinen Augen weißen Menschen nicht als Rassismus vorwerfen. Vielleicht mag dies jemand als künstlerische Einfältigkeit sehen, beurteilen kann ich das nicht. Mit Hip-Hop, Rock ‘n’ Roll und Jazz kenne ich mich nicht aus.

Schlussendlich finde es seltsam, dass selbst jemand wie Böhmermann von ihr abgeurteilt wird. Unabhängig davon, ob man ihn witzig oder nervig findet, ihm zu unterstellen, dass er “sich als weißer Typ über PoC lustig macht und deren Erfahrungen mit Polizeigewalt auf die Schippe nimmt” finde ich eine abwegige Interpretation seines “Ich hab’ Polizei“-Songs.