Liest man die Wirtschaftsnachrichten in Zeiten von Covid-19, könnte man meinen, die Menschen in den industrialisierten Ländern haben mehr Angst vor einem wirtschaftlichen Einbruch als vor dem Virus selbst. Zugegebenermaßen, manche Branchen hat es schlimm getroffen. Die oft erwähnten Hotels und Gaststätten dürften dabei deutlich besser davon gekommen sein als bspws. die Kulturschaffenden oder die Sexarbeiterinnen. Beides sind Gruppen, die eben keine so große Lobby und keine so große gesellschaftliche Anerkennung genießen.
Aber ist es um “das Wirtschaftswachstum” wirklich so schlimm bestellt, wie es die Konjunkturzahlen nahelegen? Die Versorgung mit Grundbedürfnissen (Wohnraum, Nahrung, öffentliche Sicherheit) kennt durch alle Krisen dieser Welt im Wesentlichen nur eine Richtung, und die zeigt steil nach oben. Metriken wie “wie lange muss ein Durchschnittsverdiener für eine bestimmte Menge Nahrung arbeiten” zeigen deutliche Wohlstandsgewinne:
Für ein halbes Pfund Butter musste der Durchschnittsverdiener 2009 nur noch vier Minuten arbeiten – vor fünf Jahrzehnten musste er dafür 39 Minuten seiner Arbeitskraft investieren.
Spiegel Online, “Kaufkraft-Analyse: Drei Minuten arbeiten für ein Bier”
Allerdings sei dazugesagt, dass natürlich ein Teil günstigerer Nahrungsmittelpreise durch Agrarsubventionen und durch die Ausbeutung unseres Ökosystems entstanden ist und insofern auf künftige Generationen umgelegt wird.
Nun besteht der Aktionsradius des Menschen nicht, wie bei unseren tierischen Vorfahren, aus jagen, flüchten, schlafen und fortpflanzen. Der homo sapiens ist ein kulturschaffendes Wesen mit vielen individuellen Bedürfnissen und Vorlieben (oder hat zumindest das Potential dazu). Wie viel Arbeit ist notwendig, um die ein oder oder anderen Wunschbedürfnisse zu befriedigen? Teilweise sind hier die Wohlstandsgewinne noch viel größer, betrachtet man die zu investierende Arbeitszeit für künstliches Licht:
Wer demnach heute in England eine Stunde Leselicht aus einer 18-Watt-Energiesparbirne nutzt, der muss dafür weniger als eine halbe Sekunde zum Durchschnittslohn arbeiten. 1950 waren es mit einer konventionellen Glühbirne noch acht Sekunden Arbeit, in den 1880ern mit einer Kerosinlampe 15 Minuten und um 1800 mit einem Talglicht: mehr als sechs Stunden.
ZEIT 34/2020, “Maßloser Wohlstand”
Im Mittelalter war das künstliche Leselicht noch teurer – doch noch viel wertvoller waren die Bücher. Vor Erfindung des Buchdrucks schrieb ein Mönch viele Monate ein Buch ab (genaue Zahlen sind schwer zu finden, hängt vermutlich auch sehr stark vom Aufwand der Illustrationen ab). Zusammen mit den teuren Materialien für gedruckte Bücher dürfte man sich in der Größenordnung eines Jahreslohns für einen mittelalterlichen Durchschnittsarbeiter bewegen, um sich dem Preis eines fertigen Buches anzunähern. Was kostet heute der Speicherplatz und die Energie für den Kopiervorgang für ein 1MB großes e-Book? Bei 10 € Stundenlohn und 15 € für einen 128 GB großen USB-Stick sind es gerade mal 0.05 sec, die man für den Speicherplatz arbeiten muss. Die benötigten Energiekosten für den Kopiervorgang sind noch geringer.
Auch wenn nicht jeder Zeitgenosse Bücher liest – die Kosten für das Betrachten eines Films haben sich von den ersten Kinos bis zum Netflix-Abo von heute ebenso drastisch nach unten entwickelt. Anstatt in den Zeiten von Covid-19 das Sterben von Kinos oder den angeblich zu hohen Stromverbrauch der Internet-Infrastruktur zu beklagen, könnte man sich auch einfach freuen, wie erschwinglich heute die Teilhabe an kulturellen Erzeugnissen geworden ist.
Zunehmenden Wohlstand als (abnehmende) aufzubringende Arbeitszeit zur Teilnahme an kulturellen Errungenschaften zu messen, sehe ich als faszinierende Metastrategie, die Strategien hin zu mehr technischem Fortschritt legitimiert. Wie reflexhaft die Schlagzeilen der Zeitungen und die Sorgen der Menschen dominiert werden von einem Einbruch “der Wirtschaft”, ohne sich der erwähnten Wohlstandsgewinne bewusst zu sein, gehört aus meiner Sicht zum Drama der Menschheit.