Die unerträgliche Einfachheit der Freiheit

18Nov
2010

Wer die Nachrichten aus dem fernen Osten der letzten Wochen verfolgt hat, dem dürften zwei Namen nicht entgangen sein: Auung San Suu Kyi und Liu Xiaobo, zwei Menschen, die beide den Friedensnobelpreis erhielten und die beide für die Äußerung und Verbreitung ihrer politischen Ansichten lange Zeit im Gefängnis verbrachten oder verbringen. Ob Russlands Absage an die Preisverleihung nun Duckmäusertum oder ferne ideologische Verbundenheit ist (was wäre eigentlich peinlicher oder idiotischer?), solche Preisverleihungen sind die einzig richtige Botschaft, die der Westen an die Welt senden kann. Für die Freiheit solcher Länder wie China zu argumentieren, ihren Wertemaßstab selbst festlegen zu können, ihren eigene Vorstellung von “Freiheit” in “Recht und Gesetz” gießen zu dürfen, sozusagen für eine “Freiheit für die Unfreiheit” zu werben, das ist genau der gleiche logische Unsinn wie die “Toleranz für die Intoleranz“. Die bedingungslose Vertretung der freiheitlichen westlichen Werte, die Verurteilung von Unfreiheit mit allen politischen und wirtschaftlichen Konsequenzen, wie sie im Fall China zu erwarten sind, ist alternativlos.
Das äußerst schwierige an den “westlichen Werten” ist nämlich, dass sie letztlich nur so weit existieren, wie sie von dem Menschen gelebt werden, wie sie in der Rechtssprechung verwirklicht werden, wie sie von den Regierenden geachtet werden. Diese Werte lassen sich keineswegs absolut messen, die freie Meinungsäußerung geht nur soweit, wie sie die Freiheit anderer Menschen nicht einschränkt, sei es durch Aufruf zur Gewalt und Verletzung der persönlichen Würde anderer – doch zu beurteilen wie weit die Freiheit des einen nun geht, und wann die des anderen anfängt – das ist eine enorm schwierige Entscheidung, die die verschiedenen Gewalten des Staates zu treffen haben. Wir wissen, wie die Gewalten von vergangenen Staaten entschieden haben, mit der Aufdeckung der NS-Vergangenheit des Finanzministeriums dürfte dir Mär von einem kleinen Kreis nur wenigen Eingeweihten in die Judenvernichtung im zweiten Weltkrieg einen weiteren Dämpfer erhalten haben: Es waren viele, und ich behaupte, es waren Menschen, die in ihrem persönlichen Wertesystem kein Problem damit hatten am Holocaust beteiligt zu sein, weil sie das Wertesystem der NS-Ideologie adaptiert hatten und dieses zu einem geschlossenen und stimmigen Weltbild passte. Das sehe ich als das eigentliche Problem: Der Mensch ist zum Werterelativismus fähig, zur Festschreibung absoluter Werte vollkommen unfähig.
Was ist der Ausweg aus diesem Dilemma? Ähnlich abstrakt formuliert wie bei der Selbstbezüglichkeit von Freiheit und Toleranz: Die Relation, die die Verbundenheit der Menschen bezüglich freiheitlicher Werte verbindet, muss möglichst groß gehalten werden. Eine Gemeinschaft an Menschen, an Völkern, die miteinander kommunziert, in der Meinungen sich verbreiten und verbreitet werden dürfen, ist am ehesten dazu geeignet, Werte zu halten, wie sie aus unserer jetztigen Sicht größtmögliche Freiheit für den einzelnen garantieren. Wenn in China ein Politiker etwas für seinen Machterhalt tun will, sperrt er westliche Nachrichtenseiten, die über Xiaobo berichten (nachdem er ihn selbst schon weggesperrt hat). Wenn in Deutschland ein Politiker etwas von “Internetsperren” faselt, dann bekommt er für diesen Unsinn die Retourkutsche, welche sich innerhalb von Stunden in Form von Tausenden von Blog-Einträgen im Netz verbreitet. Mit der Einstellung, unbedingt dafür einzutreten, dass diese Werte sich verbreiten, welche ihrerseits eine Verbreitung von Meinungen überhaupt erst möglich machen, wird es vielleicht auf lange Zeit gelingen, dies zu behalten, was wir jetzt unter freiheitlich-westlichen Werten verstehen.
Für einen Politiker ist dies theoretisch die einfachste aller Varianten zu regieren: Indem er möglichst wenig Restriktionen ersinnt, schützt er die Freiheit größtmöglich. Gleichzeitig ist es eine unglaublich schwierige Entscheidung persönlich für etwas einzutreten, was seine Macht potentiell gefährdet: Die Zulassung unliebsamer Meinungen, die Freiheit die anderen in einer Art und Weise handeln zu lassen, wie nach genau der Macht greifen, die man selbst gerade inne hat. Dem stattzugeben, möchte ich hier umschreiben mit dem Problem der unerträglichen Einfachheit der Freiheit fertig zu werden.

Das unspektakuläre Weiß

17Nov
2010

Heute trat nun endlich ein, was ich im letzten Eintrag herbeigesehnt, ja herbeigeschrieen habe: der erste Schnee des Jahres, pardon des Halbjahres oder vielleicht auch dieses Winters, er fiel nieder über die Stadt an der Wertach. Und wie ich die weißen Flocken durchs Fenster erblickte, bei milden Plusgraden im mittleren einstelligen Bereich, so beschloss ich auch heute wieder mit Rad zur Uni zu fahren. Doch gerade mit dieser Kombination – Plusgrade und Schnee – wich die Freude über das sich andeutende Weiß schnell der Ernüchterung. Von “M+S” war es nur ersteres, was man durch die Kleidung hindurch als kalt und nass wahrnehmen konnte, das Resultat auf dem Boden war ausschließlich in flüssiger Phase. Da war sie dahin, die zuvor erdachte Vorstellung wie man durch Meer der weißen Flocken, die von einem abperlen und zu Füßen die Sicht auf den Grund in reines, kantenglättendes, mystisch verhüllendes Weiß verwandeln. Wie doch fast immer unsere wundersamen, romantischen Vorstellungen von den Phänomen des Lebens und der Natur sich in nichts auflösen, wenn wir einen nüchternen Blick auf die zugrundeliegenden Zusammenhänge richten: Schon die Entstehung der Schneeflocken ist nur durch geeignete Kristallisationskeime möglich, d. h. Verunreinigungen der Atmosphäre – womit das wundersame Weiß also dem Dreck in der Luft zu verdanken ist, zummindest nach wissenschaftlicher Betrachtungweise. So hat die Wissenschaft in den über zwei Jahrtausendenden ihrer Genese allerlei romantische-wundersame Vorstellungen rücksichtlos zerstört: Die Sterne sind nichts anderes als andere Sonnen, die sich nach relativ einfachen Prinzipien in Galaxien anordnen, die Astrologie nichts anderes als ein großer Quatsch. An die Existenz eines “intelligenten Designers” “glaubt” nur eine Bastion von Unbelehrbaren, bei denen jede Form von Erkenntnis Gefahr läuft, von deren erstem Axiom ihres Geistes “Wissen kann ‘Wundern’ nichts anhaben”, gefressen zu werden. Viele werden es nicht besser wissen wollen, wollen es nicht besser wissen, man weiß es nicht.
Aber was geht mich all das an? Ich muss sagen, in meiner Wissenschaft bin ich von all dem relativ wenig betroffen. Die allermeisten Leute haben keine Vorstellung von theoretischer Informatik und erst recht keine romantisch-wundersame. Pseudowissenschaften geben sich ihre plausibel erscheinende Fassade durch die Missinterpretation (um das Wort Missbrauch zu vermeiden) aller möglicher Wissenschaften, der Physik (“die Quantenmechanik beweist, dass die Homöophatie wirkt”), der Mathematik (“dieses Modell sagt die Börsenkurse voraus”) oder der Chemie/Pharmazie (“Antioxidatienten sorgen für ewiges Leben”) und bei einigen weiteren Wissenschaften könnte man sich streiten, ob es selbst schon Pseudowissenschaften sind. Aber die Informatik? Hat schon einmal jemand von dem “Wunderprogramm” gehört, dass einen PC hundertmal schneller macht? Hundertmal genauer? Hundertmal bunter? Ein technisches Meisterwerk scheint der Stuxnet Wurm gewesen zu sein, der scheinbar einzig und allein das Ziel hatte, die Urananreicherung im Iran zu sabotieren. Ein erstaunlich detaillierter Artikel darüber für ein Massenmedium, mit Link auf das Original-Dossier, mit dem geschätzte 99.9% der Leser nichts anfangen könnte. Was sagt uns ein Titelbild wie das abgebildete am Anfang eines solchen Artikels? Vielleicht trifft das am ehesten die landläufige Vorstellung über informationstechnische Systeme: “So viele Anzeigen, so viele Schalter, so kompliziert!” Dies mag naiv sein, vielleicht sogar problematisch (wenn solche landläufigen Vorstellung zur Beurteilung der Sicherheit eines AKWs herangezogen werden) – aber wundersam? Romantisch? Fressen für Pseudowissenschaftler? Nichts von all dem. Die Informatik, im speziellen deren theoretische Aspekte, ist vollkommen unspektakulär.
Eigentlich die beste Voraussetzung dafür, daraus jede Menge von dem zu schöpfen, was einen ewigen Platz auf der unvollständigen Liste faszinierender Ideen verdient.