Ende und Neuanfang 7 | Wenig faszinierende Erkenntnisse 15

02Apr
2017

Schon ein halbes Jahr ist es her, dass ich zuletzt das Weltgeschehen in diesem Blog kommentiert habe. An Gegenständen, die man kommentieren könnte mangelt es nicht in einer Welt, in der sich zur Zeit etliche autokratische Regierungen ausbilden und die Rückkehr der Nationalstaaten in Europa voranschreitet. Aber ich gebe zu, dass es mir schwerfällt, einen konstruktiven Vorschlag zu machen, wie man die Welt gerechter, friedlicher und zukunftsgewandter organisieren könnte als sie es heute ist. Dennoch will ich mehr versuchen, als sich mit einem zynischen Lächeln zurückzulehnen und festzustellen, dass man die Vielfalt der politischen Meinungen auf Facebook und Twitter ein modernes Gesamtkunstwerk bewundern sollte, dass keines Kommentars mehr bedarf. Ganz so weit ist es noch nicht.

Einen sehr konstruktiven, wenn auch natürlich derzeit völlig hypothetischen, Vorschlag bringt ein amerikanischer Philosophieprofessor:

“Es wäre besser, ein System zu nehmen, das uninformierte Wähler nicht ausschließt, sondern die Stimmen der Informierten stärker gewichtet. Alle Wähler müssten vor dem Urnengang einen Test machen und angeben zu welcher demografischen Gruppe sie gehören, weil das die Wahl beeinflusst. Dann würde man das Wahlverhalten der gut Informierten aus jeder Gruppe nehmen, auf den Rest der Gruppe hochrechnen und dabei Faktoren wie Geschlecht und ethnische Herkunft berücksichtigen. Auf diese Weise würde man eine perfekt informierte Öffentlichkeit simulieren, um eine bessere Regierung zu bekommen. […] Armen schwarzen Bürgern ist vielleicht am besten geholfen, wenn man die 80% am schlechtesten informierten Weißen nicht wählen lässt. […] [Die dann gewählten Politiker der perfekt informierten Öffentlichkeit] sind für Freihandel, für Einwanderung und Schwulenrechte, sie sind für das Recht auf Abtreibung […], sie würden die Steuern erhöhen […], etwas gegen den Klimawandel tun und lehnen militärische Interventionen ab. Und sie achten auf die Bürgerrechte.”
Jason Brennan im Gespräch mit dem Spiegel, Ausgabe 14/2017

Ich hätte es nicht besser formulieren können und genau das meinte ich in meinem letzten Blogeintrag damit, dass der Wunschtraum der zusammenwachsenden freien Welt unrealisierbar ist, solange “jede Stimme gleich viel zählt.” Natürlich ist das keine Demokratie im klassischen Sinne mehr, und natürlich wird sich dieses Modell außerhalb des akademischen Elfenbeinturms vorerst nicht realisieren lassen. Ich bin mir auch nicht so sicher, ob man es wirklich versuchen sollte, wenn man denn in der Situation wäre, ein solchen System zu implementieren (und ohnehin kann ich mir die geeignete Situation schwer vorstellen).

Doch ein solches Wahlsystem wäre zumindest ein potentiell zielführender Ansatz eine wesentliche Disfunktionalität der heutigen demokratischen Welt zu beheben: Das eine uninformierte Öffentlichkeit ihre Stimme so abgibt, dass das Handeln der gewählten Politiker ihnen schadet. Sowohl beim Brexit als auch bei Trump werden eine große Mehrheit derjenigen, die dafür votiert haben, von den Konsequenzen mehr Schaden als Nutzen haben. Vielleicht haben diejenigen, die dagegen votiert haben, noch mehr Schaden. Vielleicht war der ausgestreckte Mittelfinger der “Abgehängten” gegen das Establishment in London, in New York oder San Francisco die wesentliche Motivation für ihr Votum. Vielleicht nehmen sie die negativen Konsequenzen sogar bewusst in Kauf (was ich bezweifle; aber nehmen wir das für den Moment einmal an). Vielleicht liegt das spieltheoretische Nash-Gleichgewicht des einer solchen Mehrheitsentscheidung dort, wo alle Bevölkerungsgruppen den für sie maximalen Schaden erleiden (der absolut gesehen beim Establishment natürlich höher ist). Wenn wir diese Logik in der politischen Interessenbekundung zulassen wollen, dann würde dies in letzter Konsequenz die völlige Zerstörung bedeuten, bspws. ein Bürgerkrieg mit wechselnden Koalitionen verschiedener Milizen wie derzeit in Syrien. Spätestens hier würde eine klare Mehrheit dies nicht mehr wollen. Aber solange der uninformierten Öffentlichkeit die Kausalitätsketten verborgen bleiben, kann es dann schon zu spät sein.

Ich denke, die zivilisatorische Errungenschaft der freien und friedlichen Welt ist am Ende wichtiger als die reine Lehre der Demokratie. Ändern lassen wird sich das jetzt natürlich so schnell nicht (und wie gesagt: ich bin mir nicht so sicher, ob man das sollte). Aber wenn die freie Welt ein offensichtliches Ende (wie einen hinreichend großen Krieg) erlebt hat, wäre das vielleicht eine ganz nette Idee für einen Neuanfang.