Hörenswertes 1 | Faszinierende Metastrategien 15

09Dec
2018

Die Apologeten des digitalen Zeitalters träumen von einer so automatisierten Welt, dass den allermeisten Menschen die Arbeit ausgeht, die nicht so schlau sind wie ihresgleichen. Und sie haben ein wenig Angst vor der beschäftigungslosen Masse an Leuten, die der Arbeitswelt kognitiv nicht mehr gewachsen sind. Viele fordern ein bedingungsloses Grundeinkommen. Über die Frage, ob das nun gut oder schlecht ist, kann man gerne debattieren wenn es einmal so weit ist, dass uns die Arbeit ausgeht.

Dies ist schlicht nicht der Fall. Volkswirtschaften wie Deutschland, Schweiz oder Südkorea mit sehr viel Automatisierung in der Produktion erfreuen sich der Vollbeschäftigung. Wenn durch die Digitalisierung Jobs wegfallen, dann sind es vor allem die Jobs der Akademiker: Früher haben Planer tolle Produktionspläne, Zeitpläne oder Routen geplant, heute machen das Algorithmen. Noch früher haben Mathematiker Großraumbüros gefüllt, in denen mit Zettel und Stift gerechnet wurde. Bis die ersten Computer kamen.

Wer bekam dagegen schon mal ein Paket in den dritten Stock über verwinkelte Treppenhäuser von einem treppensteigenden Roboter hochgetragen? Der KI-Forscher Hans Moravec hatte das als “Moravec’s Paradox” bekannt gewordene Prinzip, dass die einfachste Arbeit am schwersten zu automatisieren ist, folgendermaßen auf den Punkt gebracht:

“It is comparatively easy to make computers exhibit adult level performance on intelligence tests or playing checkers, and difficult or impossible to give them the skills of a one-year-old when it comes to perception and mobility.”
Moravec’s paradox (Wikipedia)

Paketboten geht also die Arbeit nicht aus, vor allem nicht in Zeiten, in denen Amazon & Co der Weihnachtsmann ist. Wenn das Geschenk doch nicht passt, kann man’s immer noch 30 Tage zurückgeben. Dabei wird dann viel niedrigpreisige Ware direkt entsorgt, weil das billiger ist, als die Ware noch mal im Regal einzusortieren und auf Vollständigkeit zu prüfen. Aber die Arbeit der Paketboten hat sich in Zeiten harter Konkurrenz und technisch einfach zu realisierenden Tracking grundlegend verändert.

Zudem hat es die Logistikbranche mit faszinierender Kreativität geschafft, den Sozialstaat durch “Solo-Selbstständige” und “Sub-Sub-Subunternehmer” komplett auszuhebeln und die effektiven Löhne ihres Fußvolks immer weiter sinken zu lassen. In einem äußerst hörenswerten Lied hat nun Jan Böhmermann versucht Bewusstsein dafür zu schaffen, was hier in Deutschland am unteren Ende der Lohnskala passiert.

Trepp auf! Wir sind die Versandsoldaten!
Trepp auf! Logistikproletariat!
Ding-Dong, immer liefern, niemals warten,
keiner da, Zettel rein, Treppe ab!
Wir sind Versandsoldaten – Jan Böhmermann & der Chor der Scheinselbstständigen (Youtube)

An diesem Problem tragen wir alle durch unsere Online-Bestellungen unseren Teil dazu bei, ohne durch unsere Konsumscheidung eine nennenswerte Steuerungswirkung zu haben (der “kleine Laden um die Ecke” wird genauso durch DHL, Hermes & Co. beliefert…). Den Ansatz, auf künstlerische Weise ein Problembewusstsein dafür zu schaffen, sehe ich als faszinierende Metastrategie.