Wenig faszinierende Strukturen 2 | Faszinierende Metastrategien 20

22Jul
2021

Seit ich Yuval Noah Hararis kurze Geschichte der Menschheit gelesen habe, beginne ich an den vermeintlichen Errungenschaften der neolithischen Revolution zu zweifeln. Das Leben als Nomade, so seine Theorie, war abwechslungsreicher und weniger beschwerlich als das sesshafte Leben. Nur weil letzteres für eine höhere Anzahl an Nachkommen sorgte, hat es sich durchgesetzt. Nach der Lektüre von Female Choice ist mir noch einmal deutlich klarer geworden, welch wenig faszinierende Strukturen als Kollateralschäden der Sesshaftwerdung entstanden sind.

“Die Zivilisation […] wurde, und hier liegt der entscheidende Punkt, ausschließlich von Männern nach ihren Bedürfnissen gestaltet. Und sie arbeiteten dabei an der Unterdrückung und Kontrolle eines biologischen Prinzips, das zuvor seit Millionen von Jahren gültig gewesen war: des Urprinzips der Partnerwahl, bei dem die Entscheidung, welches Männchen Sex hat, von den Weibchen abhängt – die Female Choice. Diese Unterdrückung – und damit auch die der weiblichen Bedürfnisse – ist das Fundament, auf dem die heutigen Staaten, politischen Systeme und Kulturkreise stehen.”
Meike Stoverock in “Female Choice”

Im Laufe der Sesshaftwerdung wurde der Mann der ewigen Rangkämpfe überdrüssig, die die Female Choice mit sich brachten und erfand die monogame Zweierbeziehung, die Sexualmoral, die hierarchische Gesellschaft. Während zuvor (und heute noch bei vielen Tierarten) 80 % der Weibchen nur 20 % der Männchen erwählten, mussten die übrigen 80 % der Männchen sich bei den übrigen 20 % der Weibchen versuchen, wovon die meisten leer ausgingen. Die Monogamie wurde von Männern erfunden, um sich die sexuelle Verfügbarkeit einer Frau zu sichern und sie setzte sich durch, weil sie geeignet war, möglichst viel Nachwuchs hervorzubringen. Doch nicht nur das:

“Darüber hinaus bringt die Ehe noch ein besonderes Schmankerl für den Mann mit. Sie installiert eine Art Minihierarchie: Mag der Mann auch in der Gesellschaft nicht an der Spitze stehen – solange er eine Frau und Kinder im eigenen Haus hat, gibt es einen Ort, an dem er der Chef ist.”

Wie stehen diese Jahrtausende alten Konzepte in Relation zu der angeblich so freien Welt, in der wir leben? Diese Konzepte haben sich bewährt, solange eine hierarchische Ordnung und viel Nachwuchs in einer Welt mit hoher Kindersterblichkeit die Kampfkraft des Stammes (bzw. später des Volkes) sicherten. Was brauchen wir von diesen Konzepten heute noch? Zumindest brauchen wir die monogamen Partnerschaften, die lebenslange Treue und die daraus oft resultierenden kinderreichen Familien in einer Welt mit dem drängenden Problem der Überbevölkerung bestimmt nicht mehr. Hierarchien jenseits demokratischer Legitimation, in Gestalt eines (zumeist männlichen) Familienoberhaupts oder klerikaler Autoritäten sind ein nicht mehr zeitgemäßes Konzept in einer freien Welt. Wenn wir Werte wie Freiheit und individuelle Lebensgestaltung ernst nehmen, dann sollten wir den bestehenden Beziehungsbegriff und die heutige (westliche!) Sexualmoral kritisch hinterfragen.

“Nicht-treue Beziehungsmodelle gibt es heute viele: von offener Beziehung über Polyamorie mit mehreren Liebespartnern oder Kernbeziehung und Nebenbeziehungen bis hin zu völliger Beziehungsanarchie, in der Sex mit anderen mal mit, mal ohne Verliebtheit, mal mit, mal ohne Beziehung, mal kürzer, mal länger vorkommt. Es gibt so viel mehr auf der Welt als das sesshaft-patriarchale Konstrukt der lebenslangen Treue. Natürlich können wir das nur entdecken, wenn wir Sexualität aus der Privatsphäre ins gut beleuchtete Tageslicht holen. Wenn wir anfangen, offen mit unseren Partnern, mit anderen Paaren und vor allem Frauen mit anderen Frauen über Lust zu sprechen.”

Die Rückkehr zur einer ursprünglicheren Sexualität halte ich für eine faszinierende Metastrategie und die Zivilisation hat hier noch einen weiten Weg vor sich. Nimmt man die biologischen Erkenntnisse zu Female Choice ernst, so wäre eine polyandrische Vielehe (d.h. eine Frau, die mehrere Männer hat) das eigentlich naheliegendere Konzept als die polygyne Vielehe, wie sie in einigen hierarchisch geprägten Kulturkreisen praktiziert wird. Warum praktiziert der Mensch als einziges Säugetier den Akt im Verborgenen? Man kann sich immerhin in Swingerclubs inspirieren lassen, wie eine freie und natürliche Sexualität aussehen kann, aber von einer breiten gesellschaftlichen Akzeptanz sind diese Möglichkeiten der Freizeitgestaltung noch weit entfernt.

Das lebenslange Treue in Form von exklusiver Sexualität der einzige Weg zum Glück ist, ist ein hartnäckiger Mythos, der von Filmen und Medien fleißig propagiert wird. Die wesentliche Motivation dafür, diese Erkenntnis nehme ich aus Stoverocks Buch mit, ist unsere männerzentrierte Gesellschaft, die diese Moral und Kultur installiert hat. Stoverock beschreibt weiter, wie sehr Reichtum und soziokultureller Rang der Männer entscheidend für deren Attraktivität sind und wie eine egalitärere Gesellschaft dazu beitragen könnte, die derzeitigen Hierarchien abzubauen. So weit stimmte ich ihr zu. Die Lösungsvorschläge einer Gesellschaft ohne Geld muten dann allerdings etwas idealistisch und wenig praxistauglich an. Es ist viel von gegenseitiger Wertschätzung und Gemeinschaftsgefühl die Rede. Hier frage ich mich, ob sie Harari gelesen hat, zu dessen Kernthesen es zählt, dass der Mensch evolutionär für kleine (Stammes-)gemeinschaften bis etwa 150 Personen sich gemeinschaftlich selbst verwalten kann. Oberhalb dieser Größe braucht man zumindest Polizisten und Richterinnen, um die Normen eines Gemeinwesens und einen zivilisierten Umgang miteinander durchzusetzen. Vermutlich braucht man auch ein Tauschmittel für Besitz, vulgo Geld. Nichtsdestotrotz sind ihre Vorschläge spannend zu lesen. Kreativität wird auf jeden Fall vonnöten sein, um die Rückkehr zur Female Choice unter gleichzeitiger Beibehaltung all der zivilisatorischen Errungenschaften zu gewährleisten.