Selbstkritische Betrachtungen 12 | Faszinierende Strategien 22

02Jan
2020

Wir leben im Jahr 2020.

Das ist so ein Satz, der nicht nur einen sehr simplen Fakt enthält und vielleicht zu einem Art “Jahresrückblick”-Post passt, sondern den man noch oft in diesem Jahr hören wird. Als ein Argument, als eine Art Totschlagargument, wenn es um Fragen geht wie: Warum musste die Silvesterböllerei sein, die so viel Feinstaub erzeugt? Warum ist Fleisch so billig und die Produktion davon so umweltschädlich und warum ist die Nutztierhaltung so wenig artgerecht? Warum sind immer noch so wenig Frauen in deutschen Vorstandsetagen? Warum kann man einen SUV zulassen, ohne dafür im Zulassungsantrag eine extra Unterschrift für die Aussage „Ich gebe hiermit klar und deutlich zu Protokoll: Meine Umwelt ist mir vollkommen schnuppe.“ leisten zu müssen?

All diese Fragen finde ich vollkommen berechtigt und viele unserer Verhaltens- und Lebensweisen finde ich nicht mehr zeitgemäß. Im Lichte der neuen Erkenntnisse (z. B. dem IPC-Sonderbericht bezüglich der Erwärmung von 1.5° gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter) kann man eigentlich nur zu dem Schluss kommen, dass es Zeit ist, etwas zu ändern. Aber was? Die globalisierte Weltwirtschaft? Die individuelle Mobilität? Die unendliche Verfügbarkeit von Konsumartikeln? Wo fangen wir an? Dieter Nuhr scherzt in seinem Jahresrückblick darüber, dass er das “Fridays for Future”-Engagement seiner Tochter unterstützt, in dem er ihr über den Winter die Heizung abdreht. Und er fragt sich, ob die Aussage von Greta Thunberg “Ihr habt mir meine Kindheit gestohlen” nicht besser zu einem 11 jährigen passen würde, der in einer Coltan-Miene unter menschenunwürdigen Bedingungen schuften muss. Damit bringt er zwei wesentliche Dinge auf den Punkt: Wir fangen ungern mit dem Verzicht bei uns selbst an. Und: Die Ankläger sind in der Regel nicht die, die unter den Konsequenzen der angeklagten Zustände leiden müssen.

Ich finde es richtig, dass wir als diejenigen, die es sich leisten können, anklagen. Wir klagen die Zustände an, wie wir unseren Planeten derzeit ausbeuten anklagen. Ich war bei einigen der “Globaler Klimastreik” Demos dabei. Ich bin für eine Politik, die durch Steuern und Umlagen teureres Fleisch, teureres Benzin und vor allem teurere Flüge generiert. Eine Politik, die das Auto in der Stadt unattraktiver macht. Und dennoch, wir sind hier bei Stichwort “selbstkritische Betrachtungen”: Ich fahre regelmäßig aus purer Bequemlichkeit Auto. Strecken, die eigentlich mit dem Rad oder Öffis bewältigbar werden, aber bei denen ich ein motorisiertes Vehikel bevorzuge weil es kalt und dunkel ist, weil es regnet oder weil ich an dem Tag schon über eine Stunde geradelt bin und gerade weder Lust auf Radeln noch auf volle und vergleichsweise unzuverlässige Öffis habe. Allerdings fahre ich nie mit dem Auto zu Stoßzeiten in die Müchner Innenstadt. Zur Arbeit radle ich immer, egal bei welchem Wetter, 10km einfach. Warum? Weil es deutlich schneller geht als das Auto, weil es stressfreier ist und weil die Parkplatzsituation bei meiner Arbeitsstelle im Zentrum sehr begrenzt und teuer wäre.

Die Verknappung eines Guts (durch den Markt und die begrenzten Ressourcen) in geschickter Verbindung mit dem politischen Setzen von Anreizen (umweltschädliches Verhalten teurer und unattraktiver machen) funktioniert. Und genau da hat Dieter Nuhr etwas sehr fundamentales nicht verstanden, der sich auch über “Umweltspuren [= Spuren exklusiv für Fahrgemeinschaften], durch die mehr Stau und damit mehr Abgase auf den anderen Spuren entstehen” beklagt: Natürlich es ist genau der richtige Anreiz, Leute zum Bilden von Fahrgemeinschaften zu motivieren. Und natürlich werden Leute auf Öffis oder auf’s Rad umsteigen, wenn der Verkehr auf dem täglichen Pendelweg zu zähflüssig wird, oder wenn durch hohe Parkgebühren und City-Maut das Auto dort unattraktiver wird, wo es wirklich nicht notwendig ist.

Die politische Strategie, über die richtigen Anreize, langsam aber sicher unsere Städte umweltfreundlicher zu gestalten und die kostbare Ressource Platz (ein Auto nimmt mehr als zehnfachen Verkehrsraum eines Fahrrads ein) gerechter zu verteilen, ist so einfach wie faszinierend. Und sie wird besser funktionieren als plötzliche Verbote oder der moralische Appell an den Einzelnen. Der reine moralische Appell (“Ändert doch einfach euer Verhalten, anstatt euch zu beschweren!”) ist, zumindest von Seiten der Politik, eine Arbeitsverweigerung. Denn deren Aufgabe ist in meinen Augen eine gesellschaftlich gerechte und auf Nachhaltigkeit bedachte Regulierung.