Faszinierende Menschen 1 | Wenig faszinierende Erkenntnisse 19

24Jan
2020

Edwards Snowdens Autobiographie “Permament Record” beschreibt einen der faszinierendsten Menschen, von denen ich bisher gelesen habe.

Wenige Menschen machen sich in ihrer täglichen Arbeit Gedanken darüber, ob sie das Richtige tun. Noch viel, viel weniger Menschen gehen große Risiken ein, um in bewusster Verletzung der Loyalität zu ihren Geldgebern auch tatsächlich das Richtige zu tun. Das Richtige nicht in einem absoluten Sinne, sondern im Grad der Konformität mit den Werte- und Moralvorstellungen, die wir uns angeeignet haben. Werte, die uns nicht angeboren sind, sondern die wir im Rahmen unserer soziokulturellen Prägung adaptiert haben und schließlich zu den unseren erklärt haben. Snowden ist kein klassischer Gegenspieler der Institutionen, der Spionagebehörden, der staatlichen Gewalt, sondern war ein begeisterter Spion und Techniker und hat sich darüber hinaus selbst zu einem amerikanischen Patrioten erklärt.

Nicht trotz dieser Tatsache, sondern genau deswegen waren und sind ihm die in der amerikanischen Verfassung verbrieften Rechte auf eine private Sphäre und auf das Briefgeheimnis wichtiger als die Loyalität zu seinen Vorgesetzten. Für den Kampf für diese Rechte hat er das in seinen Augen Richtige getan, ein Vorhaben, für das er alles riskiert hat. Auch hat er, zumindest legen dies zahlreiche Andeutungen nahe, keineswegs mit einem so glimpflichen Ausgang (er lebt nun in Russland gemeinsam mit seiner Frau, die zu ihm gezogen ist) gerechnet, sondern sich eher den Rest seines Lebens hinter Gittern vorgestellt.

Was ist von seinen Enthüllungen über die anlasslose Massenüberwachung geblieben? Was haben wir aus der Existenz von Programmen wie “XKEYSCORE” gelernt, die nach Eingabe eines Namens oder einer Handynummer den Geheimdienstmitarbeitern Chatverläufe, Screenshots aus Videounterhaltungen oder Anruflisten schön übersichtlich auflisten, über jede Person dieser Welt, die über das Internet kommuniziert?

Produkte wie Cloud-Services für private Bilder oder Geräte wie Echo, Alexa, etc. sind beliebter denn je, weil schließlich “alles so schön praktisch ist”. Auf die Konsequenzen hingewiesen, dass gleichermaßen weltweit agierende Konzerne und Geheimdienste vieler Länder dieser Welt somit noch viel einfacheren Zugriff auf unzählige private Daten haben, hört man gerne “Ich habe nichts zu verbergen.” Dazu schreibt Snowden:

“Zu behaupten, dass uns unsere Privatsphäre egal ist, weil wır nichts zu verbergen haben, ist letztlich dasselbe, als würden wir behaupten, dass uns die freie Meinungsäußerung egal ist, weil wir nichts zu sagen haben. Oder dass uns die Freiheit der Presse egal ist, weil wir nicht gern lesen. Oder dass uns die Religionsfreiheit egal ist, weil wir nicht an Gott glauben. Oder dass uns das Recht auf friedliche Versammlung egal ist, weil wir träge und antisozial sind und an Agoraphobie leiden. Nur weil uns die eine oder andere Freiheit heute nicht wichtig ist, heißt das nicht, dass sie uns oder unserem Nachbarn morgen auch noch unwichtig sein muss, oder den vielen prinzipientreuen Dissidenten, denen ich auf meinem Handy folgte, während sie an verschiedenen Orten demonstrierten in der Hoffnung, nur einen Bruchteil der Freiheiten zu erlangen, die mein Land so eifrig zu beschneiden suchte.”

Ebenso absurd ist es, zu behaupten, dass einem die Privatsphäre egal ist, “weil die NSA und Google eh schon alles wissen.” Es ist eine wenig faszinierende Erkenntnis, wie groß Egalität einer großen Anzahl der Nutzer all dieser schönen neuen praktischen Kommunikationsmittel gegenüber all diesen staatlichen und nichtstaatlichen Überwachungsmöglichkeiten geworden ist.

Geradezu amüsant finde ich die Passage, als Snowden erstmals auf die Journalisten trifft, denen er sich anvertraut hat. Er glaubt zu erkennen, dass sie enttäuscht darüber sind, so einen jungen Menschen zu treffen (nachdem er zuvor nur vollkommen anonym kommunizierte). Deren Antizipation war wohl eher ein alter, depressiver, verbitterter Mensch, der weniger aus Überzeugung, als mehr aus Frust über seinen Arbeitgeber und sein Land die Geheimnisse des Geheimdienstes an die Presse weitergibt.

Ich frage mich: Ist es wirklich plausibel, dass jemand ohne echten inneren Antrieb, ohne von Überzeugung und dem Glauben an das Wahre und Richtige getrieben zu sein, mit solch einem Aufwand und unter solch einem Risiko ein solches Vorhaben durchzieht? Braucht es nicht gerade den Idealismus eines jungen Menschen, um so etwas zu tun? Snowden schreibt dazu:

“Aber es besteht immer eine Gefahr, wenn man eine hochqualifizierte Person zu schnell zu weit aufsteigen lässt, bevor sie genug Zeit hatte, um zynisch zu werden und ihren Idealismus aufzugeben.”

Die amerikanischen Behörden brauchten Horden junger, technisch extrem begabter Leute, die mit großen Freiheiten ausgestattet, den besten denkbaren Signal Intelligence Dienst aufbauen sollten. Das dürften sie bekommen haben. Neben sehr vielen loyalen und vermutlich an Politik und Gesellschaft vollkommen desinteressierten Technikern haben sie auch einige wenige Mitarbeiter bekommen, die ihren freien Geist nutzen, die grundsätzliche Legitimität ihrer Aufgaben hinterfragen und sich am Ende höheren Werten (wie den Rechten in der Verfassung) dann doch mehr verpflichtet fühlen als der Dienstanweisung eines Vorgesetzten.

Vielleicht bräuchte die Welt mehr von solchen Leuten. Vielleicht würden Firmen, Nationen, Armeen, Großfamilien und viele weitere Strukturen, die auf Kollektiven berufen, nicht mehr funktionieren, wenn es eine kritische Masse von Leuten gibt, die regelmäßig die Legitimität ihres Handelns in Frage stellen und im Zweifel sogar danach handeln. Noch so eine wenig faszinierende Erkenntnis.