Das unspektakuläre Weiß

17Nov
2010

Heute trat nun endlich ein, was ich im letzten Eintrag herbeigesehnt, ja herbeigeschrieen habe: der erste Schnee des Jahres, pardon des Halbjahres oder vielleicht auch dieses Winters, er fiel nieder über die Stadt an der Wertach. Und wie ich die weißen Flocken durchs Fenster erblickte, bei milden Plusgraden im mittleren einstelligen Bereich, so beschloss ich auch heute wieder mit Rad zur Uni zu fahren. Doch gerade mit dieser Kombination – Plusgrade und Schnee – wich die Freude über das sich andeutende Weiß schnell der Ernüchterung. Von “M+S” war es nur ersteres, was man durch die Kleidung hindurch als kalt und nass wahrnehmen konnte, das Resultat auf dem Boden war ausschließlich in flüssiger Phase. Da war sie dahin, die zuvor erdachte Vorstellung wie man durch Meer der weißen Flocken, die von einem abperlen und zu Füßen die Sicht auf den Grund in reines, kantenglättendes, mystisch verhüllendes Weiß verwandeln. Wie doch fast immer unsere wundersamen, romantischen Vorstellungen von den Phänomen des Lebens und der Natur sich in nichts auflösen, wenn wir einen nüchternen Blick auf die zugrundeliegenden Zusammenhänge richten: Schon die Entstehung der Schneeflocken ist nur durch geeignete Kristallisationskeime möglich, d. h. Verunreinigungen der Atmosphäre – womit das wundersame Weiß also dem Dreck in der Luft zu verdanken ist, zummindest nach wissenschaftlicher Betrachtungweise. So hat die Wissenschaft in den über zwei Jahrtausendenden ihrer Genese allerlei romantische-wundersame Vorstellungen rücksichtlos zerstört: Die Sterne sind nichts anderes als andere Sonnen, die sich nach relativ einfachen Prinzipien in Galaxien anordnen, die Astrologie nichts anderes als ein großer Quatsch. An die Existenz eines “intelligenten Designers” “glaubt” nur eine Bastion von Unbelehrbaren, bei denen jede Form von Erkenntnis Gefahr läuft, von deren erstem Axiom ihres Geistes “Wissen kann ‘Wundern’ nichts anhaben”, gefressen zu werden. Viele werden es nicht besser wissen wollen, wollen es nicht besser wissen, man weiß es nicht.
Aber was geht mich all das an? Ich muss sagen, in meiner Wissenschaft bin ich von all dem relativ wenig betroffen. Die allermeisten Leute haben keine Vorstellung von theoretischer Informatik und erst recht keine romantisch-wundersame. Pseudowissenschaften geben sich ihre plausibel erscheinende Fassade durch die Missinterpretation (um das Wort Missbrauch zu vermeiden) aller möglicher Wissenschaften, der Physik (“die Quantenmechanik beweist, dass die Homöophatie wirkt”), der Mathematik (“dieses Modell sagt die Börsenkurse voraus”) oder der Chemie/Pharmazie (“Antioxidatienten sorgen für ewiges Leben”) und bei einigen weiteren Wissenschaften könnte man sich streiten, ob es selbst schon Pseudowissenschaften sind. Aber die Informatik? Hat schon einmal jemand von dem “Wunderprogramm” gehört, dass einen PC hundertmal schneller macht? Hundertmal genauer? Hundertmal bunter? Ein technisches Meisterwerk scheint der Stuxnet Wurm gewesen zu sein, der scheinbar einzig und allein das Ziel hatte, die Urananreicherung im Iran zu sabotieren. Ein erstaunlich detaillierter Artikel darüber für ein Massenmedium, mit Link auf das Original-Dossier, mit dem geschätzte 99.9% der Leser nichts anfangen könnte. Was sagt uns ein Titelbild wie das abgebildete am Anfang eines solchen Artikels? Vielleicht trifft das am ehesten die landläufige Vorstellung über informationstechnische Systeme: “So viele Anzeigen, so viele Schalter, so kompliziert!” Dies mag naiv sein, vielleicht sogar problematisch (wenn solche landläufigen Vorstellung zur Beurteilung der Sicherheit eines AKWs herangezogen werden) – aber wundersam? Romantisch? Fressen für Pseudowissenschaftler? Nichts von all dem. Die Informatik, im speziellen deren theoretische Aspekte, ist vollkommen unspektakulär.
Eigentlich die beste Voraussetzung dafür, daraus jede Menge von dem zu schöpfen, was einen ewigen Platz auf der unvollständigen Liste faszinierender Ideen verdient.