Wenn es etwas Positives an der derzeitigen Covid-19-Pandemie gibt, dann sicherlich die Tatsache, dass man wieder deutlich mehr Zeit zum Lesen hat. In diesem Sinne setze ich meine Reise durch die (Welt-)Literatur in diesem Blogbeitrag fort, und widme mich dem Werk “Schöne neue Welt” von Aldous Huxley.
Oft wird Huxleys Dystopie mit George Orwells “1984” verglichen, vereint die beiden fiktiven Szenarien eine mehr oder weniger weltumspannende totalitäre Diktatur, die bis tief in die privatesten Lebensbereiche vordringt. Mit Hilfe von Wissenschaft, Bürokratie und Technologie wird in beiden Werken ein unangreifbares Regime geschaffen, das mit Hilfe ganz klarer Hierarchien sich seine Bürger untertan macht. Doch im Vergleich zu 1984 finde ich Huxleys Weltentwurf deutlich subtiler. Insbesondere in den philosophischen Diskussionen im letzten Drittel des Textes sind etliche Beobachtungen und Gedanken von geradezu frappierender Aktualität. Damit meine ich beispielsweise Parallelen zwischen der Kastengesellschaft bei Huxley und der (digitalen) Spaltung der Gesellschaft heutzutage. Digitales Prekariat und Mindestlohnempfänger auf der einen Seite, die digitale Elite und Empfänger der satten Rendite auf der anderen Seite. Für den Weltaufsichtsrat in der schönen neuen Welt ist die Legitimation dieses Klassenunterschieds keine Frage:
“Ein Mensch, der als Alpha entkorkt und genormt ist, würde wahnsinnig werden, wenn er die Arbeit eines Epsilon-Halbidioten verrichten müßte; er würde wahnsinnig werden oder alles kurz und klein schlagen. Alphas können der menschlichen Gemeinschaft perfekt eingefügt werden, aber nur, wenn man ihnen Alpha-Arbeit überträgt. Nur ein Epsilon kann die Opfer eines Epsilons bringen, aus dem einfachen Grund, daß sie für ihn keine Opfer bedeuten, sondern der Weg des geringsten Widerstands sind.”
(Der “Weltaufsichtsrat” Mustafa Mannesmann in “Schöne neue Welt”)
Würde dieses Denken, auf die heutige Zeit übertragen, etwa bedeuten, dass es kein Opfer für die Vollbringer der einfachen Botendienste und Reinigungskräfte ist, ihre Arbeit zu vollbringen, sondern ihre einzig glücklichmachende Bestimmung? Ein Gedanke, der geradezu absurd scheint, wenn man die Idee der Chancengerechtigkeit ernst nimmt. Aber was passiert, wenn die Aufstiegs- und Bildungschancen in einer Gesellschaft erst einmal so ausgeprägt sind, dass praktisch jeder nur noch intelligente Kopfarbeit verrichten möchte? Wenn dazu passend, alle einfachen, körperlichen Arbeiten irgendwann einmal automatisiert sind (was nicht so schnell der Fall sein wird, wie ich schon einmal ausgeführt habe)? Haben wir dann eine Gesellschaft ähnlich wohlhabender, ähnlich intelligenter Kopfarbeiter, die gemeinsam die digitale, globalisierte Welt gestalten? Für den Weltaufsichtsrat bei Huxley scheint dies keine gute Idee zu sein, da dieses Experiment innerhalb der Fiktion schon einmal nicht funktioniert hat:
“Die Aufsichtsräte ließen die Insel Zypern von allen Einwohnern säubern und mit einer eigens angelegten Zucht von zweiundzwanzigtausend Alphas neu besiedeln. Man gab ihnen komplette Ausstattungen für Landwirtschaft und Industrie und überließ sie sich selbst. Das Ergebnis entsprach haargenau den theoretischen Voraussagen. Der Boden wurde nicht ordentlich bestellt, in den Fabriken gab es Streiks, die Gesetze wurden mißachtet, Befehle nicht befolgt, alle die, die für einige Zeit untergeordnete Arbeiten verrichten mußten, intrigierten unablässig um höhere Posten, und die Höhergestellten spannen Gegenintrigen, damit sie um jeden Preis auf ihren Plätzen bleiben konnten. Binnen sechs Jahren gab es einen prima Bürgerkrieg. Als neunzehntausend von den zweiundzwanzigtausend Alphas gefallen waren, richteten die Überlebenden geschlossen eine Eingabe an den Weltaufsichtsrat, die Regierungsgewalt über die Insel wieder zu übernehmen. Was auch geschah. So endete die einzige Alphagesellschaft der Welt.”
(Der “Weltaufsichtsrat” Mustafa Mannesmann in “Schöne neue Welt”)
Im Grunde sind wir mit der steigenden Automatisierung der Arbeit und der Akademisierung der Bildung heute nahe an einer “Alphagesellschaft”. Gleichzeitig beobachtet man, wie beispielsweise Kämpfe um günstigen Wohnraum in den begehrten Zentren der Welt heftiger geführt werden. Trotz aller Produktivitätsgewinne (die sich im Wirtschaftswachstum zeigen) steigt der Abstand zwischen den “vermögendsten 1%” und der akademisch gebildeten Mittelschicht in allen Industrieländern. Menschen, die qua Bildung und Intellekt eigentlich der Huxleyschen “Alpha”-Status haben, konkurrieren um die gleichen Posten und Renditen. Ist das eine Gesellschaft, die das Potential hat, in einem Bürgerkrieg zu münden?
Eine andere, gerade zu Covid-19-Zeiten sehr aktuelle Überlegung, ist der Konflikt zwischen dem wirtschaftlich “richtigen” Handeln und dem, was die Wissenschaft für richtig hält. Bei Huxley haben sich die Befürworter des ewig sich drehenden Räderwerks durchgesetzt:
“Merkwürdig, was die Menschen zu Lebzeiten Fords des Herrn über den Fortschritt der Wissenschaft geschrieben haben. Sie schienen sich einzubilden, daß die Wissenschaft ewig fortschreiten dürfe, ohne Rücksicht auf alles übrige. Erkenntnis war das höchste Gut, Wahrheit der erhabenste Wert, alles andere war nebensächlich und untergeordnet. Allerdings begannen sich schon damals die Anschauungen zu verändern. Ford der Herr selbst trug viel dazu bei, das Schwergewicht von Wahrheit und Schönheit auf Bequemlichkeit und Glück zu verlegen. Die Massenproduktion verlangte diese Verlagerung. Allgemeines Glück läßt die Räder unablässig laufen; Wahrheit und Schönheit bringen das nicht zuwege. Und natürlich ging es, sooft die Massen an die Macht kamen, stets mehr um Glück als um Wahrheit und Schönheit.”
(Der “Weltaufsichtsrat” Mustafa Mannesmann in “Schöne neue Welt”)
Ich finde diese Überlegungen äußerst spannend in einer Zeit, in der wir darüber streiten, ob man die Wirtschaft nicht abwürgen sollte, oder lieber alles tun sollte, um möglichst viele Menschen vor der Covid-19 Pandemie zu retten. Man kann sich in rein quantitative Überlegungen flüchten (“Wie viel ist ein Menschenleben wert” – ein ganz üblicher Vorgang bei der Berechnung von Versicherungssummen), aber man kann natürlich auch verschiedene moralphilosophische Überlegungen anstellen. Geht es darum den Gesamtnutzen für alle Menschen zu maximieren (Utilitarismus)? Die politische Realität, insbesondere bei der Klimakatastrophe, zeigt, dass sich dies in den westlichen Demokratien nicht abbilden lässt. Tatsächlich agieren die westlichen Industriestaaten eher so, als wären sie eine Gesellschaft der Alphas und Betas, denen die Lebensgrundlagen der austauschbaren Epsilons aus fernen Länden nicht so wichtig sind, weil einige einflussreiche Alpha-Plus Entscheider unsere lokale Wirtschaft über alles stellen und nur die gut situierten Bürger zur Wahl gehen und teure Produkte konsumieren. Ein wenig faszinierende Erkenntnis.
Aber andererseits sind in der schönen neuen Welt – wenn auch jeweils stark überzeichnet – allerlei Ideen enthalten, die heute als modern und fortschrittlich gelten. Teilweise sind das Ideen, für die sich heute Mehrheiten finden, die aber in dem 1932 erschienen Werk in der damaligen Gesellschaft kaum akzeptiert waren. Die Legalisierung von Drogen, die sexuelle Freizügigkeit, die Pränataldiagnostik, die Erforschung der Gentechnik, das Streben nach individuellem Glück oder die größere Unabhängigkeit zwischen den Generationen sind alles Punkte, die man heute in progressiven politischen Agenden lesen kann. Wohin entwickelt sich eine Welt voller Individuen, die ihr Glücksempfinden und ihren Wohlstand maximieren wollen, und mit klassischen Strukturen wie Staaten oder Familien (jeweils im Sinne einer Solidargemeinschaft) wenig anfangen können? Lässt sich dies irgendwann nur durch eine Alpha-Plus-Diktatur einhegen, die zwar die Auflösung der alten Strukturen (zugunsten einer neuen Struktur) vorantreibt, das individuelle Glück vorschreibt, dabei aber wahre Erkenntnis und Wissenschaft verbietet? Leben wir vielleicht schon in so einer Diktatur, wenn die Erkenntnisse der Wissenschaft bezüglich dem Klimawandel zwar nicht verboten, aber doch von der herrschenden Klasse fast vollkommen ignoriert werden oder durch Fake News in der Aufmerksamkeitsökonomie untergehen?
Oder löst sich das ganze Problem gerade von selbst, weil wir als vermeintliche westliche Elite, in den Zeiten von Covid-19, die Überlegenheit kollektivistischer Gesellschaften wie derjenigen in China nun einsehen müssen? Eine wenig faszinierende Aussicht.