Faszinierende Ideen 4 | Wenig faszinierende Erkenntnisse 23

07Nov
2024

Ich empfinde eine zunehmende Faszination für die Idee, in Gemeinschaften zu leben. In unserer Erziehung, in unserer Sozialisation und in der medialen Darstellung von langfristigen Beziehungen herrscht die Idee vor, dass für eine Vielzahl von unseren wichtigsten Bedürfnissen eine einzige Person in unserem Leben existieren sollte. Ein Mensch, den man liebt, mit dem man zusammen wohnt, dazu noch die meisten Hobbys und Freunde teilt, schließlich Nestwärme und Geborgenheit empfindet, und all das auch noch möglichst für immer. Oftmals habe ich schon aus der Nähe beobachtet, dass diese Konstellation, meist in Form einer monogamen Ehe für einige Jahre ein wunderbares Glück bereithält, aber das Ewigkeitsversprechen dieses Zustands sich nicht realisieren lässt. Mit einer Mischung aus sunken cost fallacy (im Deutschen habe ich gerade den Begriff “eskalierendes Commitment” dazu gefunden) und gesellschaftlich-familiärer Erwartungshaltung wird in manchen dieser unglücklichen Beziehungen über viele Jahre noch eine Fassade aufrecht erhalten, hinter der längst die Flamme erloschen ist.

Manche mögen mir hier widersprechen, andere sehen zwar die grundsätzliche Problematik, aber sehnen sich so sehr nach langfristigen, vertrauensvollen Bindungen, so dass sie sich für die serielle Monogamie entscheiden. Dies ist das in der westlichen Welt verbreitetste Beziehungsmodell und kombiniert ein idealistisches Ewigkeitsversprechen mit der Realität, in der man nach einigen Jahren die Partnerperson austauscht. Bewegt man sich weg von der Idee der Monogamie, so muss die Suche nach Verbindungen, die von Vertrauen, Commitment und Ehrlichkeit geprägt sind, in keinster Weise auf eine einzige Person fokussiert sein. Wenn wir den Wert von Gemeinschaften erkennen, so muss die Erwartungshaltung an eine einzige Partnerperson längst nicht so hoch sein und gleichzeitig steigt die Wertschätzung für Freundschaften, für Gemeinschaften, für das Miteinander. Emilia Roig schreibt dazu:

Was würde passieren, wenn wir die Familien vorbehaltene Bindung ausdehnen würden auf die Freundschaften und Communitys, auf die Gemeinschaft? Doch es gibt eine gesellschaftliche Skepsis, ja sogar Angst vor tiefen Verbindungen außerhalb der Paarbeziehung und der Kernfamilie, weil sie eine Bedrohung für das kapitalistisch-patriarchale Machtgefüge darstellen. […] Stellen wir uns vor, wie unsere Gesellschaft aussehen würde, wenn wir das Versprechen von Fürsorge, Liebe, Zuwendung und Treue nicht einer Person vorbehalten würden, sondern diese mit mehreren Personen austauschten. Es wäre revolutionär in einer patriarchalen Gesellschaft, wo Männer die emotionale und fürsorgliche Arbeit der Frauen vereinnahmen.

Der Gedanke, dass das Machtgefüge des Kapitalismus und Patriarchats mit der Kernfamilie und der Monogamie zusammenhängen, mag nicht unmittelbar einleuchtend sein. Ich denke inzwischen, dass die Beobachtungen, die Emilia Roig hier macht, ähnlich denen von Meike Stoverock in “Female Choice”, durchaus zutreffend sind: Eine Gesellschaftsarchitektur, in der es eine klare Chain of Command von patriarchalen Herrschern zum autoritär agierenden Familienoberhaupt einer Kernfamilie gibt, fällt zusammen mit einem Status- und Besitzdenken des Individuums, welches seine Attraktivität auf dem Dating-Markt (insbesondere als Mann) durch sozioökonomischen Status generiert.

Die Symptome dieses Konkurrenzkampfs innerhalb dieses Machtgefüges wären nicht vorhanden, oder zumindest erheblich eingeschränkt, wenn wir viele unserer Bedürfnisse in Gemeinschaften gleichberechtigter Individuen stillen. Wenn wir nicht nur Ideen und Werte teilen, sondern auch Liebe, (intime) Interessen und Wohnraum. Wenn wir uns gegenseitig einen sicheren emotionalen Hafen genauso wie einen Wachstumsraum anbieten. Die Versuchung nur aufgrund einer sunken cost fallacy oder zur Bewahrung einer hübschen Fassade, etwas zu tun, was sich gegen die eigenen Bedürfnisse richtet, ist aus meiner Sicht innerhalb einer liebevollen und achtsamen Gemeinschaft erheblich geringer. Sobald sich toxische Bindungsmuster bei Menschen ergeben, die in vertrauensvollen Gemeinschaften leben, bietet sich die Gemeinschaft als Korrektiv an, als sicherer Hafen, als Alternative zur emotionalen Abhängigkeit.

Befürworter monogamer Beziehungsformen sprechen hier gerne von “Beliebigkeit”, wenn man sich in Gemeinschaften bewegt und fluide Verbindungen zu vielen lieben Menschen pflegt, die mal intensiver und mal weniger intensiv gestaltet werden können. Auch wird gerne von fehlender Tiefe oder fehlender Intensität polyamorer Beziehungen gesprochen. In meiner Lebenserfahrung argumentieren häufig diejenigen so, die dazu neigen, besonders hohe Besitzansprüche oder emotionalen Druck gegenüber ihre:r Partner:in aufzubauen, die ihm:ihr emotional nicht gut tun. Auch Versuche in diesen Beziehungen gezielt Abhängigkeiten aufzubauen, habe ich immer wieder beobachtet. Am Ende hört man ganz oft das Argument, das Liebe nun mal nicht teilbar ist.

Menschen in polygamen Beziehungen werden oft als egoistisch und gierig bezeichnet, dabei ist das Gegenteil der Fall: Die Ausdehnung der Liebe auf mehrere Menschen schwächt sie nicht, sondern kann sie stärken, weil es Einzelne von dem Druck des Besitzanspruchs befreit. Die Begrenztheit der monogamen Paarbeziehung, wie ich sie wahrnehme, basiert auf der Vorstellung, dass Liebe eine knappe Ressource ist, die sich weder teilen noch vermehren lässt.

Niemand würde widersprechen, dass sich die geschwisterliche oder freundschaftliche Liebe auf mehrere Personen aufteilen lässt. Solche Relationen gewinnen an Festigkeit und Harmonie, wenn alle Beteiligten untereinander emotional positive Interaktionen haben. Nur das soziokulturelle Konstrukt der romantischen Liebe soll ausgerechnet auf eine einzige Person beschränkt sein. Hier ist ein derart mächtiges Narrativ entstanden, so dass aus meiner Sicht völlig zurecht die Frage gestellt werden darf, warum dies in den eigentlich so freien westlichen Gesellschaften so vehement von den herrschenden Strukturen verteidigt und subventioniert wird. Wer nun einwendet, dass doch in der Kleinfamilie alles gut sei, und diese Struktur eine offensichtliche Erfolgsgeschichte ist, der verschließt die Augen vor der wenig faszinierenden Erkenntnis, dass tagtäglich sehr viel psychische wie physische Gewalt in Partnerschaften stattfindet, während die Fassade nach außen hin aufrecht erhalten wird.

Die Kleinfamilie ist kein neutraler oder gar natürlicher Ort, sie ist eine mächtige gesellschaftliche Norm, die kollektiv aufrechterhalten wird, unter anderem durch das Schweigen darüber, was innerhalb von Familien wirklich geschieht.