Faszinierende Literatur 3 | Das Drama der Menschheit 12

07Jul
2019

“Der psychologische und physiologische Mechanismus der Liebe ist so kompliziert, daß ein junger Mann sich in einem bestimmten Lebensabschnitt fast ausschließlich auf dessen Beherrschung konzentrieren muß und der eigentliche Inhalt der Liebe ihm entgeht — die Frau, die er liebt (ähnlich etwa wie ein junger Geiger sich nicht gut auf den Inhalt einer Komposition konzentrieren kann, solange er die manuelle Technik nicht soweit beherrscht, daß er beim Spielen nicht mehr daran denken muß).”
Milan Kundera in “Der Scherz”

Jenseits der inspirierenden Einsichten von Kundera in die Liebe, das Zwischenmenschliche und die Individualität ist “Der Scherz” geprägt von einer gewissen Bewunderung für kommunistische Ideen und gleichzeitig eine wachsende Abscheu und Verachtung gegenüber dem sozialistischen System, dem Totalitarismus, dem Kampf gegen alles Individuelle, gegen alles, was dem System nicht vollkommen konform ist. Faszinierend fand ich auch die Einsicht, wie einer der loyalen Verteidiger der sozialistischen Einparteiendiktatur den Totalitarismus gegenüber dem Protagonisten verteidigt (der für einen harmlosen Scherz innerhalb eines privaten Briefs über Trotzki für fünf Jahre Militärdienst in einer Kohlegrube absolvieren musste):

“In Ihrem Streit mit der Partei stehe ich nicht auf Ihrer Seite, Ludvik, denn ich weiß, daß man die großen Dinge auf dieser Welt nur mit einem Kollektiv von grenzenlos ergebenen Menschen schaffen kann, die ihr Leben demütig für einen höheren Zweck hingeben. Sie, Ludvik, sind nicht grenzenlos ergeben. Ihr Glaube ist zerbrechlich. Wie könnte es anders sei, da Sie sich ständig nur auf sich selbst und Ihren kläglichen Verstand berufen haben!”
(gleiche Quelle)

Wenn wir aus dieser Geschichte etwas lernen können, dann vielleicht dies: Jede Idee, die man nur mit einem Kollektiv von grenzenlos ergebenen Menschen realisieren kann, ist keine Idee, die es Wert ist, realisiert zu werden. Jede Idee, die keinen kritischen Widerspruch verträgt, die keine kritische Debatte verträgt, die für Zweifler, Rationalisten oder Individualisten nur das Arbeitslager übrig hat, sollte niemals im Rahmen eines politischen Experiments zu realisieren versucht werden. Plakativer ausgedrückt (wie es Martin Schulz vor einiger Zeit in ganz anderem Zusammenhang sagte): Es ist eine Idee für den Müllhaufen der Geschichte.

Faszinierende Metastrategien 16 | Selbstkritische Betrachtungen 11

14Apr
2019

Der Ökonom Thomas Straubhaar erklärt in in einem Spiegel-Interview das Ende der Volksparteien:

Die Begriffe »Nation« und »Volk« sind vielfach nur noch Hüllen ohne klare Bedeutung. Es gibt kein Volk mehr als Einheit, und deshalb dürfte es bald auch keine Volksparteien mehr geben. Dafür gibt es überall Bewegungen, und die tragen jetzt statt der Parteien den politischen Wettstreit aus. Das sind unfassbar dynamische Antreiber.
Thomas Straubhaar, im Spiegel 15/2019

Wenn man sich die häufigsten Argument der Argumente der “Fridays for Future” Demonstrationsteilnehmer anhört, warum sie ihr Anliegen nicht in Parteien vertreten, dann fallen Sätze wie: Die Parteien seien zu träge, es braucht zu lange bis man sein Anliegen einbringen kann, es dauert noch viel länger, bis man für ein nennenswertes Amt kandidieren kann und vor allem: Man muss jede Menge andere Anliegen mittragen, die man vielleicht nicht gut findet. Die Grünen sind keine klassische Volkspartei und doch sind sie viel mehr als der parlamentarische Arm der Umweltbewegung, so sehr sie auf vielen anderen politischen Themengebieten mitwirken.

Die Vertreter der Parteien argumentieren dagegen “Wir sind eben eine Parteiendemokratie, das hat sich nun schon lange so bewährt.” Ich erkenne selbstkritisch an, dass ich als politisch interessierter Mensch mich auch nicht dazu durchringen kann, mich in einer Partei zu engagieren. Ich finde bei jeder der großen Parteien Positionen, die ich nicht vertreten möchte. Am Parteiensystem festzuhalten, weil es sich bewährt hat, ist meiner Ansicht nach erst mal ein valider, aber auch konservativer Ansatz. Auch wenn die Grünen mittlerweile von diesem Ansatz überzeugt sind.

Mit Bewegungen Politik zu machen, statt über den normalen parteipolitischen Prozess zu gehen ist ein gewagtes Vorhaben. Es zu versuchen, sehe ich als faszinierende Metastrategie.

In dem Sinne finde ich auch den Münchner Radentscheid sehr unterstützenswert, weil ich als täglicher Radler in der Münchener Innenstadt sehr gerne an der derzeitigen Situation etwas ändern würde. Zugegebenermaßen hätte ich vor einigen Jahren aus Prinzip nicht auf Seiten verlinkt, die mit dem albernen Gender-Sternchen ihre Texte weniger lesbar machen. Aber so viel Kompromissbereitschaft muss man dann eben doch an den Tag legen, wenn man einer Bewegung, die sich für ein einzelnes Interesse einer recht heterogenen Interessengruppe einsetzt, eine Chance geben will.

Faszinierende Strategien 22 | Selbstkritische Betrachtungen 10

12Apr
2019

Es ist Freitag und wieder haben viele Jugendliche und junge Erwachsene für das Klima demonstriert. Ich empfinde das eine faszinierende Strategie, in dieser Sache mit dem Anspruch aufzutreten, dass es um die Zukunft der jetzt jungen Leute geht, die in der Politik einfach eklatant unterrepräsentiert sind. Letztens gab es eine konkrete Liste an Forderungen an die Politik. Die Konsequenz, so hat SpOn nachgerechnet, wären deutlich höhere Treibstoffpreise und vor allem bis zu 2000 € mehr für Langstreckenflüge. Politisch erscheint das allerdings reichlich illusorisch und hat natürlich auch enorme Sprengkraft. Am ehesten würde man es wohl nur einer Partei zutrauen, solche Ziele mit Nachdruck zu vertreten, nämlich den Grünen.

Nur was ist mit den Wählern der Grünen? Die stoßen am meisten CO2 von allen Wählergruppen aus, gehören sie doch zu der soziographischen Gruppe, die sich die größten Autos, die geräumigsten Wohnungen und vor allem die meisten Flugreisen leisten kann. Eine Tatsache, die die der sonst mir sehr sympathische Robert Habeck bei Anne Will zuletzt nicht besonders souverän regiert hat.

Dennoch, ich glaube bei Problemen der gerechten Aufteilung von Almende-Gütern wie Umweltressourcen nicht mehr an die Verantwortung des einzelnen. Für jeden, der im Berufsverkehr vom Auto auf’s Rad umsteigt, wird im Mittel ein anderes Auto mehr unterwegs sein. Solange der Verkehrsfluss nicht derart langsam wird, dass es keinen Sinn mehr macht, voran zu kommen, werden die Straßen voll sein. Die Vorgehensweise des Münchener Umweltreferats den Verkehr “verflüssigen” zu wollen, um die Luftqualität zu erhöhen, empfinde ich als himmelschreienden Unsinn. Wer weniger Autos in der Stadt will, muss zu drastischen Maßnahmen greifen: Eine hohe City-Maut (30 € oder mehr pro Tag?), viel weniger und teureren Parkraum (20 € und mehr pro Tag?) und viel mehr Fahrradspuren (grundsätzlich 1,5m breite Fahrradwege, was fast überall bedeutet, eine Autospur wegzunehmen). Die Konsequenz wäre übrigens auch für mich, mein Auto öfter mal stehen zu lassen, jedenfalls abends (zur Arbeit nutze ich nur das Fahrrad). Derzeit zahle ich für den variablen Kostenanteil einer Autofahrt weniger als die Hälfte für ein U-Bahn Ticket. Das ist umwelttechnisch ein völliger Irrsinn. Wahrscheinlich würde ich auch weniger der viel zu günstigen Fernreisen machen. Mit allem könnte ich gut leben.

Wenig faszinierende Erkenntnisse 18 | Wenig faszinierende Strategien 22

24Feb
2019

Die erste wenig faszinierende Erkenntnis des Jahres, die zum Gegenstand eines Blogbeitrags hier werden soll, betrifft Menschen mit Migrationshintergrund in diesem Land. Die Medien sind gerade voll mit Berichten über kriminelle arabische Clan-Strukturen in Essen oder Berlin. Um das einmal klarzustellen: Ich finde es vollkommen richtig, dass darüber ausführlich berichtet wird. Und natürlich ist die letzten Jahre einiges schief gelaufen bei den Behörden, dass es so weit kommen konnte. Und wenn irgendjemand darüber nicht berichtet hat oder in einer Behörde weggesehen hat, weil er es für politisch wenig opportun hielt, über “kriminelle Ausländer” zu berichten, dann war das grundfalsch.

Aber was ist mit der überwältigenden Mehrheit der gut integrierten Migranten, die all die Jobs machen, die unseren Wohlstand erst ermöglichen, und die kaum ein Deutscher machen will? Die Betreiber günstiger Imbissläden, die Arbeiter in der Nicht-Vertrags-Autowerkstatt, die Paketkuriere, die Spediteure, die Küchenmonteure, die günstigen Friseure – und das sind nur diejenigen Branchen mit hohem Anteil an Migranten, die wir tagtäglich sehen. Uns über die günstigen Preisen und die hohe Zuverlässigkeit freuen, falls wir das den bewusst wahrnehmen. Viele Jobs in Fabriken mit hohem Anteil an ausländischen Arbeitern bzw. Menschen mit Migrationshintergrund bleiben für uns unsichtbar. Jobs, für die man kaum Deutsche findet, die sie machen würden.

Fatma Aydemir, eine Tochter türkischer Gastarbeiter, schreibt dazu:

Und vielleicht ist das Wort Migrantenbonus auch gar nicht so falsch. Nur dass es kein Bonus ist, den wir erhalten, sondern einer, den wir vergeben: Vielleicht wissen aufmerksame Arbeitgeber_innen inzwischen einfach, dass sie von uns für das gleiche Geld mehr bekommen.
[…]
Doch um ehrlich zu sein: Wenn ich mich umschaue, sehe ich in diesem Land niemanden, der so hart arbeitet wie Migrant_innen. Niemanden. An Burn-out aber leiden immer nur die Deutschen. Komisch.
[…]
Ich konnte gerade mal meinen Namen schreiben, da machte meine Mutter schon drei Jobs gleichzeitig: morgens Bäckerei, mittags Kartonfabrik, nachts Wäscherei. Mein Vater arbeitete fast vierzig Jahre im grellen Halogenlicht von Fabriken und verfiel kürzlich in eine Krise, weil er zum ersten Mal in seinem Leben arbeitslos war. Sein Arbeitgeber hatte ihn im Zuge eines Stellenabbaus entlassen. Doch hielt mein Vater es keine drei Monate zu Hause aus. Dann ließ er sich von einer Zeitarbeitsfirma in eine andere Fabrik schicken, für den halben Lohn und weniger Urlaubsanspruch. Er ist trotzdem zufriedener. Denn er kann nicht mehr nicht arbeiten.
aus: “Das Ende des German Dream”, Spiegel Online

Es ist eine wenig faszinierende Strategie, die Leute auszubeuten, die man entweder als “faul und kriminell” beschreibt oder aber, wenn das all zu offensichtlich nicht zutrifft, behauptet “die Ausländer nehmen uns unsere Arbeitsplätze weg”. Was die überwältigende Mehrheit der Migranten angeht, geht das derart an der Realität vorbei, dass es kaum wert scheint, sich darüber aufzuregen. Als Wahlkampfmotto für eine AfD mit dem Kern einer NPD 2.0 taugt es immer noch.

Weiter schreibt Aydemir:

“Masseneinwanderung ins deutsche Sozialsystem”, “Wirtschaftsflüchtlinge”, “Asyltourismus” – immer häufiger werden rechte Kampfbegriffe normalisiert. Inzwischen dominieren sie Politik und Medien. Damit wird Angst geschürt vor denen, die gekommen sind, um den Deutschen etwas wegzunehmen. Doch die einzige plausible Erklärung für diese Verlustangst ist Rassismus. Sonst nichts. Deutschland hat schon immer von Zuwanderung profitiert und tut es heute noch, ganz egal, was uns besorgte Bürger und Heimatminister weismachen wollen.
(gleiche Quelle wie zuvor)

Natürlich profitieren wir nur deswegen, weil genug Leute ins Land kommen, die bereit sind, schlecht bezahlte Arbeit zu machen. Warum ist das so? Die höhere Bereitschaft, etwas zu erreichen, wenn man schon den Mut gefasst hat, in die Ferne aufzubrechen? Der große Kaufkraftunterschied zwischen Deutschland und deren Heimatländern, in die sie ein Teil des Lohns schicken? Und der Rest der Preisbildung und der Arbeitsbedingungen ist dann der freie Markt? Zum Teil sicherlich. Leute, die ohne Ausbildung ins Land kommen, werden natürlich weniger verdienen als die, die schon ein Berufsabschluss oder ein Studium haben.

Aber es gibt auch Gründe für Marktversagen, und struktureller Rassismus gehört sicher dazu. Wer glaubt, den gebe es doch gar nicht in Deutschland, möge sich beispielsweise die Studie zu Bewerbungschancen bei ausländisch klingenden Vornamen zu Gemüte führen. Schon über 4 Jahre her, aber ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass sich da viel geändert hat. Solange Dieter Bohlen (und der Großteil seiner Fans wahrscheinlich auch) es für eine zielführende Frage hält, bei einem fünfjährigen Mädchen mit asiatischem Aussehen die Migrationsgeschichte der Großeltern abzufragen, weil er eine Antwort wie “aus Herne” nicht akzeptiert, haben wir ein Problem mit Rassismus. Eine wenig faszinierende Erkenntnis.