Wenig faszinierende Strategien 25 | Faszinierende Metastrategien 19

14Feb
2021

In seinem sehr empfehlenswerten Buch “Wie wir lieben. Vom Ende der Monogamie” beschreibt Friedemann Karig die Monogamie als “kulturell-evolutionäre Strategie”:

“Die lebenslange Treue zu einem Menschen ist also einerseits eine kulturell-evolutionäre Strategie, wie man als sesshafte Spezies am besten das Land bestellen konnte. Und andererseits, auf gesellschaftlicher Ebene, ist Monogamie ein effektives politisches Steuerungsinstrument.”

Man mag es als Reich der Spekulation abtun; aber viele Frühhistoriker haben Zweifel daran, dass die umherziehenden Jägerinnen und Sammler ihre Sexualität innerhalb monogamer Partnerschaften auslebten. Viel wahrscheinlicher ist eine vergleichsweise freie Liebe, wobei natürlich ranghöhere Mitglieder der Gruppe mehr Möglichkeiten zur sexuellen Entfaltung hatten als rangniedrigere (ähnlich wie bei unseren nächsten Verwandten, den Affen).

Sehr wahrscheinlich ist, dass “klare Verhältnisse” zweier Zusammenlebender für das erfolgreiche Aufziehen des Nachwuchses hilfreich waren. Die neolithische Revolution war vor allem deshalb erfolgreich, weil sie zu mehr lebensfähigen Nachkömmlingen führte, aber nicht etwa weil sie das bessere Leben bot. Zu diesem Thema seien auch die Ausführungen von Yuval Noah Harari in “Die kurze Geschichte der Menschheit” sehr empfohlen. Heute spielt es für die physische Lebensfähigkeit des Nachwuchses im Grunde genommen keine Rolle mehr, ob ein Kind in einer großen WG oder einer klassischen Familie aufwächst.

Warum hält sich diese, in meinen Augen wenig faszinierende, “kulturell-evolutionäre” Strategie so hartnäckig? Ich möchte behaupten: Weil sie Teil einer soziokulturellen Konstruktion ist, eines tradierten Wertekonzepts, welches uns von klein auf als ein Ideal angepriesen wird und vorgelebt wird. So sehr junge Leute heute früh ihre Erfahrungen mit Sexualität machen, Pornographie konsumieren, sich ausprobieren und ihre Orientierung oder auch ihr Geschlecht immer mal wieder in Frage stellen: es bleibt der Grundkonsens, dass auf eine “Ausprobier- und Auslebephase” dann ein “Settlement” folgen muss. Einen Partner finden, vermeintlich für immer, und wenn es doch nicht klappt, dann eben einen weiteren. Serielle Monogamie nennt man dieses Konzept.

Vielleicht stellt die Alternative dazu die Lebensentwürfe und denen Grundkanon an Werten, wie sie uns geradezu eingebläut werden, zu sehr in Frage, als dass dies jemals eine breitere gesellschaftliche Akzeptanz finden konnte. Das Konzept nennt sich Polyamorie und meint, dass Gefühle der sexuellen Anziehung und der emotionalen Zuneigung keineswegs auf einen Menschen beschränkt sein müssen. Dass eine langfristigere Partnerschaft nicht bedeuten muss, dass die Auslebung der Sexualität für den Rest des Lebens auf eine einzelne Person eingeschränkt ist und im Laufe der Zeit meist weniger intensiv wird – man nennt das denn Coolidge-Effekt. Dass man Leute kennenlernen kann in der Option auf “was immer sich daraus ergibt”, einschließlich emotionaler Zuneigung oder gar romantischer Nebenpartnerschaften. Ein Konzept, um die Sexualität des Menschen wieder ein Stück weit dahin zu bringen, wie es sehr wahrscheinlich einmal war. Auch wenn ich mich mit dem Adjektiv “natürlich” im Kontext der menschlichen Entwicklung sehr schwer tue (ist es natürlich, dass ich mir an einem Sonntagabend diese Gedanken machen kann, statt das Feuer schüren und den Tiger verjagen zu müssen…?) finde ich den Vergleich mit der Sportausübung sehr treffend:

“Gegen Bewegungsmangel haben wir den Sport erfunden. Was erfinden wir für natürlicheren Sex? Polyamorie? Offene Beziehungen? Kommunen gründen, in denen wir leben wie unsere Vorfahren in der Savanne?”
Friedemann Karig: Wie wir lieben. Vom Ende der Monogamie

Welches Konzept man dafür auch immer “erfindet” (im Grunde gibt es das alles schon, ist nur nicht besonders weit verbreitet): Darüber nachzudenken und ein Leben jenseits der Monogamie zu evaluieren ist eine faszinierende Metastrategie. Ich verwende das Präfix “Meta” weil das Ganze für eine Strategie zu bunt, zu vielschichtig und zu komplex ist. Ich mag Komplexität.

Positives Denken 1 | Selbstkritische Betrachtungen 13

09Jan
2021

Dieser Beitrag soll eine Art (persönlicher) Jahresrückblick sein. Ein Rückblick von einem Jahr, das für die allermeisten von uns wahrscheinlich überdurchschnittlich viele Veränderungen brachte und uns mehr als bisher dazu zwang, zu reflektieren, was uns wirklich wichtig ist und wie sehr wir die Dinge und die Wesen um uns herum wertschätzen.

Noch nie war ich so viel wandern wie dieses Jahr. 36 Tourtage zähle ich für dieses Jahr in meinem Kalender. Viele Wanderungen fanden aufgrund der gegebenen Umstände nur zu zweit statt. Touren, die viel Zeit boten für intensive und tiefgehende Gespräche während die Blicke über das Alpenpanorama schweifen, oder nun über die verschneiten Winterwunderländer. Darüber hinaus viele kürzere Flachlandwanderungen im urbanen Gebiet (aka Spaziergänge) zu zweit. So sehr ich zeitweise den StuSti-Stammtisch oder gesellige Spieleabende in größeren Gruppen vermisst habe, diese one-on-one Treffen boten eine unverhoffte Gelegenheit, Freundschaften zu pflegen und zu vertiefen. Nebenbei lernt man zu schätzen, was die nahen Berge oder die städtischen Parks an schöner Natur, Weitläufigkeit und Ruhe zu bieten haben.

Man lernt den Gewinn an Zeit zu schätzen. Wir Bildschirmarbeiter (und damit fast ausschließlich im Home-Office Arbeitende) haben die vormalige Pendelzeit als zusätzliche Zeit gewonnen. Ich konnte Ruhe gewinnen für Arbeiten, die der Konzentration bedürfen, die man in einem recht vollen Büro so nicht hat. Aber natürlich haben wir auch etwas verloren, wie die Gespräche mit den Kollegen an der Kaffeemaschine. Sehr viele sind sich einig, dass dauerhaftes Home-Office nicht der erstrebenswerte Zustand unserer Arbeitswelt sein sollte. Meiner Einschätzung nach genauso viele werden die neugewonnene Freiheit, sich seine Zeit und Arbeitsorte selbst einzuteilen, auch nach Ende der Pandemie nicht abgeben wollen. Die Wirtschaftswelt wird sich darauf einstellen müssen und darüber freuen dürfen, um wie viel effizienter nun viele arbeiten. Etwas schade, dass es zu dieser Flexibilisierung (die ausnahmsweise den Arbeitnehmern und nicht den Arbeitgebern nutzt) einer Pandemie bedurfte.

Wir sind wandlungsfähig. Hätte man mir vor einem Jahr gesagt “es werden ein paar Monate kommen, in denen alle Tennisplätze und Badmintonhallen” geschlossen haben, hätte ich mir das wahrscheinlich als großes Unglück vorgestellt. Das war es auch, aber nur ungefähr die ersten zwei Wochen. Danach beginnt man, Alternativen zu suchen. Sich zu arrangieren mit der Situation, wie sie ist und wie man sie nicht ändern kann. Vor allem beginnt man festzustellen, wie gut man es eigentlich hat. Die Freizeitgestaltung als größtes Problem seines Lebenswandels? Das sind first world problems. Selbstkritisch erkenne ich, welche Privilegien ich habe. Distanzarbeit. Weit weg von Kundenkontakt. Noch weiter weg vom Patientenkontakt, dem all die Ärztinnen und Krankenpfleger ausgesetzt sind. Besonders betroffen jene, die am Ende eines Arbeitstags auf einer Corona-Station in voller Schutzausrüstung einen Gummistiefel voller Schweiß auskippen.

Urlaube, als sie in dem an Restriktionen weitgehend freien Sommer dann möglich waren, führten zumeist in der Nähe. War das viele Fliegen in der Vergangenheit wirklich so notwendig? Natürlich möchte ich viele meiner Eindrücke, die ich vor einigen Jahren in asiatischen Ländern gesammelt habe, nicht missen. Allerdings stelle ich mir nach so einem (sehr schönen!) Sommer die Frage, ob denn wirklich jedes Jahr eine Fernreise sein muss. Die Seen oder der Eisbach in München, die Wandergebiete in den Alpen oder vielleicht auch nächstes Jahr wieder Skandinavien: Hat die nähere Umgebung nicht auch sehr viel zu bieten? Natürlich, manche Regionen dieser Welt leben vom Tourismus. Aber das allein kann – bei angenommenem vergleichbaren Urlaubsvergnügen – nicht der Grund sein, einen viel zu großen CO2-Fußabdruck zu hinterlassen. Geld in Entwicklungsländer kann man auch durch effektive Spenden fließen lassen.

Von Psychologen habe ich gelesen, dass Kinder ab und zu Langeweile empfinden müssen, um aus diesem Zustand heraus neue Ideen und Kreativität zu entwickeln. Vielleicht zeigt der Lockdown, dass es Erwachsenen nicht viel anders geht. Wenn Back- oder Nähzutaten überall ausverkauft sind, dann haben viele Leute offensichtlich einige Hobbys (wieder-)entdeckt. Ich habe mehr Bücher gelesen, im Frühjahr auch viel geschrieben, programmiere auch mal wieder ein wenig an einem privaten Projekt, habe die Standbohrmaschine mal wieder aus dem Keller geholt und mich am Möbel basteln versucht. Sicher hätte ich das nicht alles davon gemacht, wenn mein Leben in dem üblichen Takt, frei von pandemiebedingten Einschränkungen, verlaufen wäre. Langeweile schafft Kreativität.

Um noch eine selbstkritische Betrachtung anzufügen: Privilegiert bin ich natürlich auch in der Hinsicht, dass ich mit meiner Liebsten zusammenwohne. Natürlich wäre Home-Office weit weniger angenehm als alleine Wohnender. Ich verstehe jeden, der trotz HO-Möglichkeit noch ins Büro geht, mangels sozialer Kontakte zu Hause. Insbesondere eine alleine verbrachte Mittagspause ist auf Dauer natürlich alles andere als reaktivierend. Hier bin ich als jemand, der regelmäßig auch noch so gut bekocht wird, so gesehen natürlich doppelt privilegiert.

Global gesehen kann man sich natürlich fragen, ob wir als Bewohner des Westens alle privilegiert sind oder, im Vergleich zu Ländern wie Südkorea oder Taiwan, in pandemischen Zeiten nur in der zweitbesten der möglichen Welten leben. Ich denke nicht, dass man das pauschal beantworten kann. Zu unterschiedlich sind die Gesellschaftssysteme, Denkweisen und insbesondere auch das Verständnis von individuellem Glück. Aber wenn wir wo anderes “Besseres” in ganz egal welcher Hinsicht sehen, dann kann man das als Anlass nehmen, daraus zu lernen, uns weiterzuentwickeln, an Vorbildern zu orientieren und das zu tun, von dem wir glauben, dass es das Richtige ist.

Wenig faszinierende Strategien 24 | Die Macht unseres Handelns 1

02Dec
2020

Geschäftsstrategien im Bereich des Plattformkapitalismus gehören für mich zu den am wenigsten faszinierenden Strategien überhaupt. Sei es Uber, Lieferando, Amazon Marketplace oder wie all die Geschäftsmodelle heißen, die im Wesentlichen nach folgendem Schema aufgebaut sind: Wir haben eine App. Für dich, lieber Konsument, wird es nun sehr komfortabel. Kundenzentrierung heißt schließlich unsere Religion! Wir bekommen natürlich eine (anfangs kleine) Provision. Dass diese stetig mit unserer Marktmacht wachsen wird, sagen wir dir noch nicht. Der Dienstleister oder Produzent (bspws. Uber- oder Lieferando-Fahrer, Pizzabäcker, etc.) soll sich nicht so anstellen. Konkurrenz belebt das Geschäft! So haben wir das doch alle in der Mikroökonomie mal gelernt.

Die hohen Anfangsinvestionen und die Zuversicht der Investoren lässt sich nur damit erklären, dass von Anfang an die Hoffnung besteht, dass die Plattform zu einem marktbeherrschenden Quasi-Monopol mutiert, die den Produzenten die Bedingungen erklärt. Diese Produzenten werden zunächst natürlich liebevoll umworben: Wir sorgen für dich, deine Auftragslage wird besser, die Provisionen sind niedrig! Dies ist vorsätzlich unehrlich. Jeder Spielkasino-Betreiber, jeder Hersteller von autonomen Kampfdrohnen, jeder Bordellbetreiber hat ein ehrlicheres Geschäftsmodell als die Plattformkapitalisten. Kaum mehr nötig zu erwähnen, dass das Beschäftigungsverhältnis der Dienstleister in diesem Geschäft (die Lieferando-Fahrer) als Solo-Selbstständige eine einzige Umgehung des Sozialstaates ist.

Die ZEIT hat in ihrer aktuellen Ausgabe die Situation exemplarisch für das Beispiel Lieferando beleuchtet:

“Dafür zahlen die beiden eine Provision von normalerweise 28 Prozent, sie haben einen älteren Vertrag. Restaurants, die heute neu auf die Plattform kommen, müssen 30 Prozent abgeben.
[…]
Seine wachsende Marktmacht hat das Unternehmen genutzt, um die Provision Jahr für Jahr weiter zu erhöhen. Wer, anders als die Hamburger Pizzeria, das Essen selbst zu den Kunden bringt, statt es von der Lieferando-Flotte ausfahren zu lassen, zahlte vor fünf Jahren pro Vermittlung neun Prozent. Heute sind es durchschnittlich 13 Prozent.
[…]
Immer wieder passiere es, dass Pizzen zusammengefaltet “wie eine Calzone” bei seinen Kunden ankämen, weil ein Lieferando-Fahrer die Kartons hochkant in seinen Rucksack stecke, sagt er. Schon “tausend Mal” habe er den Kundendienst darauf hingewiesen, ohne Erfolg. Lieferando erstattet ihm in solchen Fällen nur die Hälfte des Verkaufspreises.”
aus: ZEIT 49/2020, “Lieferando – Das schmeckt ihnen nicht” (nur für Z+ verfügbar)

Soweit also die desolate Lage von Restaurants, die von einem Anbieter abhängig geworden sind, weil die service-verwöhnte Kundschaft lieber mit einem Klick in einer App bestellt, als direkt bei einem Restaurant anzurufen oder auch einfach mal selbst vorbeizulaufen und die Pizza abzuholen. Ein bisschen Bewegung schadet sicherlich nicht in diesen Covid-19-Zeiten, in denen so viele von uns jeden Tag im Home Office sitzen.

Dieser Beitrag wurde nicht mit “Das Drama der Menschheit” überschrieben, sondern ich habe mir das Label “Die Macht unseres Handelns” neu ausgedacht, weil es zum einen in der Macht der Konsumenten liegt, daran etwas zu ändern und sich parallel dazu auch auf der Seite der Produzenten Widerstand formiert:

“Dass sich auch kleine, familiengeführte Restaurants von Lieferando lossagen können, will der Unternehmer Fadi Abu-Gharbieh aus Münster beweisen. […]
Vor allem aber verlangt sie von den Restaurants statt einer prozentualen Umsatzbeteiligung nur einen Betrag von maximal 250 Euro pro Monat.
[…]
‘Die Unzufriedenheit vieler Gastronomen mit Lieferando ist groß’, sagt er. ‘Die flehen uns regelrecht an, dass wir ihnen helfen.'”
(gleiche Quelle)

Insofern ist es in unserer Hand, durch einen bewussteren Konsum und eine bewusstere Auswahl unserer beauftragten Dienstleistungen etwas zu ändern.

Faszinierende Metastrategien 18 | Das Drama der Menschheit 13

19Aug
2020

Liest man die Wirtschaftsnachrichten in Zeiten von Covid-19, könnte man meinen, die Menschen in den industrialisierten Ländern haben mehr Angst vor einem wirtschaftlichen Einbruch als vor dem Virus selbst. Zugegebenermaßen, manche Branchen hat es schlimm getroffen. Die oft erwähnten Hotels und Gaststätten dürften dabei deutlich besser davon gekommen sein als bspws. die Kulturschaffenden oder die Sexarbeiterinnen. Beides sind Gruppen, die eben keine so große Lobby und keine so große gesellschaftliche Anerkennung genießen.

Aber ist es um “das Wirtschaftswachstum” wirklich so schlimm bestellt, wie es die Konjunkturzahlen nahelegen? Die Versorgung mit Grundbedürfnissen (Wohnraum, Nahrung, öffentliche Sicherheit) kennt durch alle Krisen dieser Welt im Wesentlichen nur eine Richtung, und die zeigt steil nach oben. Metriken wie “wie lange muss ein Durchschnittsverdiener für eine bestimmte Menge Nahrung arbeiten” zeigen deutliche Wohlstandsgewinne:

Für ein halbes Pfund Butter musste der Durchschnittsverdiener 2009 nur noch vier Minuten arbeiten – vor fünf Jahrzehnten musste er dafür 39 Minuten seiner Arbeitskraft investieren.
Spiegel Online, “Kaufkraft-Analyse: Drei Minuten arbeiten für ein Bier”

Allerdings sei dazugesagt, dass natürlich ein Teil günstigerer Nahrungsmittelpreise durch Agrarsubventionen und durch die Ausbeutung unseres Ökosystems entstanden ist und insofern auf künftige Generationen umgelegt wird.

Nun besteht der Aktionsradius des Menschen nicht, wie bei unseren tierischen Vorfahren, aus jagen, flüchten, schlafen und fortpflanzen. Der homo sapiens ist ein kulturschaffendes Wesen mit vielen individuellen Bedürfnissen und Vorlieben (oder hat zumindest das Potential dazu). Wie viel Arbeit ist notwendig, um die ein oder oder anderen Wunschbedürfnisse zu befriedigen? Teilweise sind hier die Wohlstandsgewinne noch viel größer, betrachtet man die zu investierende Arbeitszeit für künstliches Licht:

Wer demnach heute in England eine Stunde Leselicht aus einer 18-Watt-Energiesparbirne nutzt, der muss dafür weniger als eine halbe Sekunde zum Durchschnittslohn arbeiten. 1950 waren es mit einer konventionellen Glühbirne noch acht Sekunden Arbeit, in den 1880ern mit einer Kerosinlampe 15 Minuten und um 1800 mit einem Talglicht: mehr als sechs Stunden.
ZEIT 34/2020, “Maßloser Wohlstand”

Im Mittelalter war das künstliche Leselicht noch teurer – doch noch viel wertvoller waren die Bücher. Vor Erfindung des Buchdrucks schrieb ein Mönch viele Monate ein Buch ab (genaue Zahlen sind schwer zu finden, hängt vermutlich auch sehr stark vom Aufwand der Illustrationen ab). Zusammen mit den teuren Materialien für gedruckte Bücher dürfte man sich in der Größenordnung eines Jahreslohns für einen mittelalterlichen Durchschnittsarbeiter bewegen, um sich dem Preis eines fertigen Buches anzunähern. Was kostet heute der Speicherplatz und die Energie für den Kopiervorgang für ein 1MB großes e-Book? Bei 10 € Stundenlohn und 15 € für einen 128 GB großen USB-Stick sind es gerade mal 0.05 sec, die man für den Speicherplatz arbeiten muss. Die benötigten Energiekosten für den Kopiervorgang sind noch geringer.

Auch wenn nicht jeder Zeitgenosse Bücher liest – die Kosten für das Betrachten eines Films haben sich von den ersten Kinos bis zum Netflix-Abo von heute ebenso drastisch nach unten entwickelt. Anstatt in den Zeiten von Covid-19 das Sterben von Kinos oder den angeblich zu hohen Stromverbrauch der Internet-Infrastruktur zu beklagen, könnte man sich auch einfach freuen, wie erschwinglich heute die Teilhabe an kulturellen Erzeugnissen geworden ist.

Zunehmenden Wohlstand als (abnehmende) aufzubringende Arbeitszeit zur Teilnahme an kulturellen Errungenschaften zu messen, sehe ich als faszinierende Metastrategie, die Strategien hin zu mehr technischem Fortschritt legitimiert. Wie reflexhaft die Schlagzeilen der Zeitungen und die Sorgen der Menschen dominiert werden von einem Einbruch “der Wirtschaft”, ohne sich der erwähnten Wohlstandsgewinne bewusst zu sein, gehört aus meiner Sicht zum Drama der Menschheit.

Faszinierende Metastrategien 17 | Wenig faszinierende Erkenntnisse 21

28May
2020

Auf das Münchener Projekt BISS wurde ich erst durch einen Artikel über die Photographien von Rainer Viertlböck so richtig aufmerksam, der die Wohnungen der BISS-Zeitungsverkäufer für eine Ausstellung abgelichtet hat. Auch wenn ich mich an den ein oder anderen Verkäufer der BISS-Straßenzeitung, deutlich erkennbar mit umgehängten Ausweis, durchaus erinnern konnte, war mir nie so richtig klar, worin der Inhalt dieser Zeitung besteht oder gar was das Ziel des Projekts ist. Vielleicht gingen diese kurzen Eindrücke im Rahmen der begrenzten Aufmerksamkeitskapazität im reizüberfluteten Großstadtleben auch einfach ein wenig unter.

Die Verkäufer sind oft ehemalige Obdachlose, in jedem Fall Menschen die auf dem ersten Arbeitsmarkt keine Chance (mehr) haben. Für einen Moment mag man sich fragen “Und warum verkaufen die jetzt Zeitung? Können diese Menschen nicht eine Ausbildung/Weiterbildung/etc. machen und wieder regulär in einfachen Jobs arbeiten?” Wenn man ein wenig mehr darüber nachdenkt oder sich mit der Thematik näher beschäftigt, wird klar, dass das alles nicht so einfach ist. Auch wenn theoretisch in Deutschland niemand betteln muss: Der Weg durch den Ämter- und Formularejungle bei behördlichen Angelegenheiten ist selbst für den ein oder anderen Akademiker durchaus anstrengend. Für Menschen mit psychischen Problem, Suchterkrankungen, sehr geringen Sprachkenntnissen ist dieser Weg oftmals unmöglich. Vor allem: Die Straße ist deren einziges vertrautes Terrain. Gleichzeitig aber ist Betteln oder Flaschensammeln als einziges Tagesgeschäft keine würdevolle Tätigkeit.

In diesem Sinne sehe ich es als eine faszinierende Metastrategie, auf die Anliegen und Sorgen von “Bürgern in sozialen Schwierigkeiten” (wofür das Akronym BISS steht) mit einer regelmäßig erscheinenden Publikation zu diesem Thema aufmerksam zu machen, und gleichzeitig jenen Bürgern ein Auskommen zu bieten. Eine feste Stelle, die immerhin dazu reicht, sich eine kleine Wohnung in der teuren bayerischen Landeshauptstadt leisten zu können. Die Bilder von Rainer Viertelböck zeigen sehr kleine Domizile, die aber doch eben so viel mehr sind auf dem Weg zurück in ein normales Leben als ein Bretterverschlag unter einer der Isarbrücken. Dazu können die Angestellten auf der Straße, ihrem vertrauten Terrain, ihrer Arbeit nachgehen. Noch dazu liefern sie, unter Anleitung von Journalisten, selbst kleine Textbeiträge über ihre Geschichte und ihr Leben. Die BISS-Verkäufer können mit Käufern ins Gespräch kommen und haben vor allem eine legitime Grundlage für ihre Präsenz in der Öffentlichkeit, anstelle des schambehafteten Daseins als Bettler. Wer lieber einer handwerklichen Tätigkeit auf dem Weg zurück in ein normales Leben nachgehen möchte, für den gibt es auch das Partnerprojekt einer Fahrradwerkstatt.

Als ich während der Corona-Ausgangsbeschränkungen (eine Zeit, in der der Straßenverkauf von BISS temporär untersagt war) eine kleine Spende an das BISS-Projekt richtete, bekam ich mitsamt der Spendenbescheinigung auch die Jubliläumsausgabe von 2018 zugeschickt. Darin wurde unter anderem vom BISS-Hotelprojekt berichtet, welches 2011 leider gescheitert ist:

“Die gemeinnützige und mildtätige Stiftung BISS beabsichtigt, das alte Münchner Frauen- und Jugendgefängnis Am Neudeck unter Einhaltung des Denkmalschutzes und Erhalt des alten Baumbestands in ein Hotel der gehobenen Klasse umzubauen, um damit 40 jungen Menschen in besonderen sozialen Schwierigkeiten eine umfassende, erstklassige Ausbildung und Qualifizierung zu ermöglichen.
[…]
Nachdem die CSU/FDP-Ab-geordneten im Haushaltsausschuss gegen einen Freihandverkauf an BISS gestimmt hatten, wurde ein Bieterverfahren durchgeführt. Der Freistaat machte nicht von der ausdrücklich im Bayerischen Haushaltsrecht verankerten Möglichkeit Gebrauch, einem dem Gemeinwohl dienenden Bieter den Vorzug zu geben. […] Im Mai 2011 gab die Bayerische Staatsregierung einem anonymen, kommerziellen Immobilieninvestor den Zuschlag für das alte Frauengefängnis Am Neudeck.”
aus: BISS, Oktober 2018

Es ist eine wenig faszinierende Erkenntnis, dass so ein ambitioniertes soziales Projekt der kalten Logik der Gewinnmaximierung von staatlicher Seite weichen musste.