Wenig faszinierende Erkenntnisse 18 | Wenig faszinierende Strategien 22

24Feb
2019

Die erste wenig faszinierende Erkenntnis des Jahres, die zum Gegenstand eines Blogbeitrags hier werden soll, betrifft Menschen mit Migrationshintergrund in diesem Land. Die Medien sind gerade voll mit Berichten über kriminelle arabische Clan-Strukturen in Essen oder Berlin. Um das einmal klarzustellen: Ich finde es vollkommen richtig, dass darüber ausführlich berichtet wird. Und natürlich ist die letzten Jahre einiges schief gelaufen bei den Behörden, dass es so weit kommen konnte. Und wenn irgendjemand darüber nicht berichtet hat oder in einer Behörde weggesehen hat, weil er es für politisch wenig opportun hielt, über “kriminelle Ausländer” zu berichten, dann war das grundfalsch.

Aber was ist mit der überwältigenden Mehrheit der gut integrierten Migranten, die all die Jobs machen, die unseren Wohlstand erst ermöglichen, und die kaum ein Deutscher machen will? Die Betreiber günstiger Imbissläden, die Arbeiter in der Nicht-Vertrags-Autowerkstatt, die Paketkuriere, die Spediteure, die Küchenmonteure, die günstigen Friseure – und das sind nur diejenigen Branchen mit hohem Anteil an Migranten, die wir tagtäglich sehen. Uns über die günstigen Preisen und die hohe Zuverlässigkeit freuen, falls wir das den bewusst wahrnehmen. Viele Jobs in Fabriken mit hohem Anteil an ausländischen Arbeitern bzw. Menschen mit Migrationshintergrund bleiben für uns unsichtbar. Jobs, für die man kaum Deutsche findet, die sie machen würden.

Fatma Aydemir, eine Tochter türkischer Gastarbeiter, schreibt dazu:

Und vielleicht ist das Wort Migrantenbonus auch gar nicht so falsch. Nur dass es kein Bonus ist, den wir erhalten, sondern einer, den wir vergeben: Vielleicht wissen aufmerksame Arbeitgeber_innen inzwischen einfach, dass sie von uns für das gleiche Geld mehr bekommen.
[…]
Doch um ehrlich zu sein: Wenn ich mich umschaue, sehe ich in diesem Land niemanden, der so hart arbeitet wie Migrant_innen. Niemanden. An Burn-out aber leiden immer nur die Deutschen. Komisch.
[…]
Ich konnte gerade mal meinen Namen schreiben, da machte meine Mutter schon drei Jobs gleichzeitig: morgens Bäckerei, mittags Kartonfabrik, nachts Wäscherei. Mein Vater arbeitete fast vierzig Jahre im grellen Halogenlicht von Fabriken und verfiel kürzlich in eine Krise, weil er zum ersten Mal in seinem Leben arbeitslos war. Sein Arbeitgeber hatte ihn im Zuge eines Stellenabbaus entlassen. Doch hielt mein Vater es keine drei Monate zu Hause aus. Dann ließ er sich von einer Zeitarbeitsfirma in eine andere Fabrik schicken, für den halben Lohn und weniger Urlaubsanspruch. Er ist trotzdem zufriedener. Denn er kann nicht mehr nicht arbeiten.
aus: “Das Ende des German Dream”, Spiegel Online

Es ist eine wenig faszinierende Strategie, die Leute auszubeuten, die man entweder als “faul und kriminell” beschreibt oder aber, wenn das all zu offensichtlich nicht zutrifft, behauptet “die Ausländer nehmen uns unsere Arbeitsplätze weg”. Was die überwältigende Mehrheit der Migranten angeht, geht das derart an der Realität vorbei, dass es kaum wert scheint, sich darüber aufzuregen. Als Wahlkampfmotto für eine AfD mit dem Kern einer NPD 2.0 taugt es immer noch.

Weiter schreibt Aydemir:

“Masseneinwanderung ins deutsche Sozialsystem”, “Wirtschaftsflüchtlinge”, “Asyltourismus” – immer häufiger werden rechte Kampfbegriffe normalisiert. Inzwischen dominieren sie Politik und Medien. Damit wird Angst geschürt vor denen, die gekommen sind, um den Deutschen etwas wegzunehmen. Doch die einzige plausible Erklärung für diese Verlustangst ist Rassismus. Sonst nichts. Deutschland hat schon immer von Zuwanderung profitiert und tut es heute noch, ganz egal, was uns besorgte Bürger und Heimatminister weismachen wollen.
(gleiche Quelle wie zuvor)

Natürlich profitieren wir nur deswegen, weil genug Leute ins Land kommen, die bereit sind, schlecht bezahlte Arbeit zu machen. Warum ist das so? Die höhere Bereitschaft, etwas zu erreichen, wenn man schon den Mut gefasst hat, in die Ferne aufzubrechen? Der große Kaufkraftunterschied zwischen Deutschland und deren Heimatländern, in die sie ein Teil des Lohns schicken? Und der Rest der Preisbildung und der Arbeitsbedingungen ist dann der freie Markt? Zum Teil sicherlich. Leute, die ohne Ausbildung ins Land kommen, werden natürlich weniger verdienen als die, die schon ein Berufsabschluss oder ein Studium haben.

Aber es gibt auch Gründe für Marktversagen, und struktureller Rassismus gehört sicher dazu. Wer glaubt, den gebe es doch gar nicht in Deutschland, möge sich beispielsweise die Studie zu Bewerbungschancen bei ausländisch klingenden Vornamen zu Gemüte führen. Schon über 4 Jahre her, aber ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass sich da viel geändert hat. Solange Dieter Bohlen (und der Großteil seiner Fans wahrscheinlich auch) es für eine zielführende Frage hält, bei einem fünfjährigen Mädchen mit asiatischem Aussehen die Migrationsgeschichte der Großeltern abzufragen, weil er eine Antwort wie “aus Herne” nicht akzeptiert, haben wir ein Problem mit Rassismus. Eine wenig faszinierende Erkenntnis.

Lesenswertes 4 | Faszinierende Metastrategien 14

29Oct
2018

Jean-Paul Sartre hat mich fasziniert, ehe ich auch nur eine Zeile von ihm gelesen habe. Allein aufgrund der Tatsache, dass er den Literaturnobelpreis abgelehnt hat, um seine politische Unabhängigkeit zu wahren. Die höchste Auszeichnung für einen Literaten, vergeben von einem Gremium, das nicht gerade im Verdacht stand, irgendwelchen Partikularinteressen zu folgen, sondern ihn auch noch für seinen “freiheitlichen Geist” auszeichnet. Und damals gab es noch keine Sexskandale im Gremium für den Literaturnobelpreis (bzw. war jedenfalls nichts darüber bekannt). Aber die Stockholmer Akademie war eben doch eine Institution des Westens:

“Meine Sympathien gehören unzweifelhaft dem Sozialismus… Aber ich wurde in einer bürgerlichen Familie geboren und erzogen. Dies gestattet mir, mit all jenen zusammenzuarbeiten, die eine Annäherung der beiden Kulturen wünschen… Aus diesem Grund kann ich aber keinerlei von kulturellen Organisationen weder des Ostens noch des Westens verliehene Auszeichnungen annehmen… Obwohl alle meine Sympathien den Sozialisten gehören, könnte ich dennoch gleicherweise zum Beispiel einen Lenin-Preis nicht annehmen… Diese Haltung hat ihre Grundlage in meiner Auffassung von der Arbeit eines Schriftstellers. Ein Schriftsteller, der politisch oder literarisch Stellung nimmt, sollte nur mit den Mitteln handeln, die die seinen sind – mit dem geschriebenen Wort. Alle Auszeichnungen, die er erhält, können seine Leser einem Druck aussetzen, den ich für unerwünscht halte. Es ist nicht dasselbe, ob ich „Jean-Paul Sartre“ oder „Jean-Paul Sartre, Nobelpreisträger“ unterzeichne.”
Sartre in seiner Begründung der Ablehnung

Die vollkommene Unabhängigkeit. Die Bereitschaft, mit allen zusammenarbeiten, ganz egal, wie tief der Graben zwischen dem Westen oder dem Osten zu dieser Zeit gewesen sein mag. Eine Unabhängigkeit, die so weit gefasst ist, die so viel Verzicht erfordert, dass ich sie als eine faszinierende Metastrategie bezeichnen mag.

Nun habe ich angefangen Sartre zu lesen, und zwar seinen Roman “Der Ekel”, der ihn auf einen Schlag berühmt machte. Danach war ich noch faszinierter von ihm als zuvor.

“Wie fern von ihnen ich mich fühle, von der Höhe dieses Hügels herab. Es kommt mir vor, als gehörte ich zu einer anderen Spezies. Sie kommen aus den Büros, nach ihrem Arbeitstag, sie schauen zufrieden die Häuser und die Grünplätze an, sie denken, daß es ihre Stadt ist, ein «schönes bürgerliches Gemeinwesen». Sie haben keine Angst, sie fühlen sich zu Hause. Sie haben nie etwas anderes gesehen als das gezähmte Wasser, das aus den Hähnen läuft, als das Licht, das aus den Glühbirnen strahlt, wenn man auf den Schalter drückt, als entartete, gekreuzte Bäume, die man mit Astgabeln stützt. Sie erhalten hundertmal am Tag den Beweis, daß alles mechanisch abläuft, daß die Welt starren und unwandelbaren Gesetzen gehorcht. Die der Leere überlassenen Körper fallen alle mit der gleichen Geschwindigkeit, der Park wird im Winter täglich um 16 Uhr, im Sommer um 18 Uhr geschlossen, Blei schmilzt bei 335 Grad, die letzte Straßenbahn fährt um 23 Uhr 5 vom Hotel de Ville ab. Sie sind friedlich, ein bißchen mißmutig, sie denken an morgen, das heißt lediglich an ein neues Heute; Städte verfügen nur über einen einzigen Tag, der völlig gleich an jedem Morgen wiederkehrt. Kaum, daß man ihn an den Sonntagen etwas herausputzt. Diese Idioten. Es geht mir gegen den Strich, zu denken, daß ich ihre feisten und saturierten Gesichter Wiedersehen werde. Sie machen Gesetze, sie schreiben populistische Romane, sie verheiraten sich, sie haben die maßlose Dummheit, Kinder zu machen. Unterdessen hat sich die große, verschwommene Natur in ihre Stadt eingeschlichen, sie ist überall eingesickert, in ihre Häuser, in ihre Büros, in sie selbst. Sie rührt sich nicht, sie verhält sich still, und sie, sie sind mitten drin, sie atmen sie ein und sehen sie nicht, sie bilden sich ein, sie sei draußen, zwanzig Meilen von der Stadt entfernt. Ich sehe sie, diese Natur, ich sehe sie … Ich weiß, daß ihr Gehorsam Trägheit ist, ich weiß, daß sie keine Gesetze hat: was sie für Beständigkeit halten … Sie hat nur Gewohnheiten und kann diese morgen ändern.”
Sartre in “Der Ekel”

Schreibt das ein ironisch-distanzierter Beobachter der Menschheit? Ist das eine wohlformulierte Verachtung der Bourgeoisie? Einfach nur eine für den von ihm begründeten Existenzialismus typische Beobachtung? Für mich ist Sartre vor allem ein genialer Beobachter der Menschen. Präzise, frei von jedem Kitsch, erhaben über das Alltägliche. Vielleicht würde er selbst sagen: Angeekelt von der Trivialität des Alltäglichen.

Faszinierende Metastrategien 13 | Wenig faszinierende Erkenntnisse 17

09Dec
2017

In “Die Kunst des guten Lebens” (übrigens sehr lesenswert!) analysiert Rolf Dobelli unter anderem die psychologischen Ursachen der Inflation an Meinungen:

“Unser Hirn ist ein Meinungsvulkan. Es versprüht nonstop Meinungen und Ansichten. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Fragen relevant oder irrelevant, beantwortbar oder unbeantwortbar, komplex oder einfach sind. Unser Hirn pustet Antworten heraus wie Konfetti. […]
Wir tendieren – gerade bei schwierigen Fragen – sofort zur einen oder anderen Seite. Erst danach konsultieren wir den Verstand, um nach Gründen zu suchen, die unsere Position untermauern. Das hat mit der sogenannten Affektheuristik zu tun. Ein Affekt ist ein sofortiges, eindimensionales Gefühl. Dieses Gefühl ist oberflächlich und kennt zur zwei Ausprägungen – entweder positiv oder negativ, “gefällt mir” oder “gefällt mir nicht”. […]
Falsche Entscheidungen aufgrund schneller Meinungsbildung können verheerend sein, aber es gibt noch einen anderen guten Grund, unsere Meinungsinkontinenz zu stoppen. Nicht immer eine Meinung haben zu müssen beruhigt den Geist und macht uns gelassener – eine wichtige Zutat für ein gutes Leben.”

Interessant finde ich vor allem, wenn man sich die Konsequenzen daraus für unser politisches System überlegt: In vielen Ländern wird regelmäßig das Volk befragt zu Fragen, deren Auswirkungen unglaublich komplex ist (der Brexit ist eines der besten Beispiele), und für die die große Mehrheit der Bevölkerung eigentlich keine Meinung hat. Zumindest keine Meinung jenseits der affektiven, emotional getriebenen, Zustimmung oder Ablehnung in Fragen, die so vieldimensional sind, das ein einfaches “finde ich gut” oder “finde ich nicht gut” dem Thema nicht gerecht wird. Vieldimensionalität und damit einhergehende unvergleichbare Kompromisse sind natürlich Konzepte, die für unsere Entscheidungsfindung deutlich unbequemer sind als ein intuitives “gefällt mir”.

Die wenig faszinierende Erkenntnis ist, das unabhängig davon, was einem gefällt, man sich seine seine Filterblase zu suchen kann, in dem praktisch jede Kombination an Meinungen als geschlossenes Weltbild präsentiert wird. Jede abweichende Meinungen, selbst jedes kaum bestreitbare Faktum, das die Vorzüge des eigenen Weltbilds in Frage stellt, ist kein ebenso optimaler und unvergleichbarer Kompromiss, sondern die Propaganda der anderen. Die mit der “falschen” Meinung (oder die für ihre Meinungen bezahlt werden, aus Sicht der Verschwörungstheoretiker).

Meinungslosigkeit ist eine faszinierende Metastrategie. Wenn ich zu einem Thema, welches mich interessiert, so viele konträre Meinungen mit fundierter Argumentation durchgelesen habe, das ich danach keine eindeutige “ja oder nein” Meinung habe, sondern eine Menge pareto-optimaler Kompromisse in einem hochdimensionalen Raum vor mir sehe, dann ist das ein gutes Zeichen. Dann nähere ich mich der tatsächlichen Komplexität dieses Themas an.

Das ist jetzt aber keine hilfreiche Strategie für Führungskräfte in Politik und Wirtschaft. Investieren oder nicht? Den bilateralen Vertrag unterschreiben oder nicht? Entscheidungen von Führungskräften sind ihrer Natur nach oft binär, einen Mittelweg gibt es nicht. Was also tun? Eine erfolgversprechende Strategie könnte sein: Am wenigsten der eigenen affektiven Emotion vertrauen, am meisten den Wissenschaftlern und Beratern, die man in der konkreten Frage am kompetentesten hält und mit denen man in der Vergangenheit die besten Erfahrungen gemacht hat. Die Schrittweite so klein wie möglich wählen: In einer komplexer werdenden Welt, kann jede Entscheidung in die eine oder andere Richtung Konsequenzen in einer ganz anderen Größenordnung haben. Die eigene “Meinung” (die man als solche den Untergebenen natürlich kommunizieren muss, auch wenn man gar keine hat) bei Bedarf schnell wieder ändern und den Kurs korrigieren. Ideologiefrei agieren, denn politische und wirtschaftliche Ideologien (was nichts anderes als ein sehr starres Set an Meinungen ist) sind eigentlich alle gescheitert und können die Komplexität der Welt nicht antizipieren.

Und nun am Ende doch noch eine persönliche Meinung, weil’s so gut passt: Es gibt in Deutschland eine politische Führungsfigur, die eigentlich all das perfektioniert hat, und die ich genau dafür schätze. Alle, die ihr “Meinungslosigkeit” vorwerfen, haben da irgendetwas nicht verstanden. Jedenfalls meiner Meinung nach – über die ich auch ein wenig nachgedacht habe. Jedenfalls mehr als über mein letztes Like für ein Katzenbild auf Facebook. In dem Fall spricht dann auch wirklich nichts gegen die affektive emotionale Zustimmung.

Faszinierende Strategien 20 | Selbstkritische Betrachtungen 8

05Nov
2016

“Ich bin Individualist. Als ich jung war, war es nicht leicht in Japan als Individualist zu leben. Wer nicht Teil des Systems war, galt damals nur wenig. Heute ist die japanische Gesellschaft weniger streng organisiert, aber als ich jung war, war das noch anders. Das hat mich geprägt. Ich gehörte zu keiner Firma und auch nicht zu irgendeiner Gruppe, meine Frau und ich, wir haben ganz für uns gelebt. Ich habe kämpfen müssen, um auf diese Art zu überleben. Aber ist die einzige Art, wie ich leben kann. Vermutlich sind meine Figuren auch deshalb, wie sie sind.”
Haruki Murakami, im Interview mit dem Spiegel, 41/2016

Als Individualist zu leben, frei und unabhängig zu sein, ist eine faszinierende Strategie. Ganz besonders faszinierend empfinde ich dies bei Menschen, die in einem Kontext leben, wo eine Anpassung an umgebende Gruppen vorgesehen ist und Loyalität offen erwartet wird. Es gibt nur eine relativ kleine Gruppe an Menschen, die einen solchen Kampf wirklich aufnehmen. Ein Kampf, in dem es nicht Materielles und auch keine tatsächliche Macht zu gewinnen, sondern sich eher eine abstrakte und (meist) theoretische Freiheit erreichen lässt. Ich denke das ist gut so. Die Menschheit hätte es nicht geschafft, Städte, Firmen oder Staaten zu gründen, ohne das eine Mehrheit ihrer Vertreter eine gewisse angeborene Loyalität zu umgebenen Gruppen vorweist.

Ansichten eines Propheten 3 | Ende und Neuanfang 5

28Sep
2016

Michel Houellebecq hat den Frank-Schirrmacher-Preis erhalten und zu diesem Anlass eine viel beachtete Dankesrede (vollständiger Wortlaut auf der NZZ) gehalten. Seit der “tragischen Koinzidenz” (wie er selbst sagt), dass sein Buch “Unterwerfung” am Tag des Charlie-Hebdo-Attentats erschienen ist, gilt er so manchen als Prophet. Die NZZ hat seine Rede mit “Europa steht vor dem Selbstmord” überschrieben und als Islamskeptiker ist er weithin bekannt. Natürlich erreicht das große Aufmerksamkeit in Zeiten der Rückkehr der Nationalstaaten, in Zeiten von Front National und AfD. Warum erhält dieses enfant terrible der modernen Literatur nun diesen Preis, warum zitiere ich Houellebecq hier schon wieder?

In gleichem Maße wie ich sein literarisches Werk bewundere, zweifle ich an seinen Prophezeiungen, deren Plausibilität sich einzig und allein aus eine Betrachtung der (lange zurückliegenden) Geschichte und daraus ergebenden Projektionen auf die Gegenwart speist. Immerhin hoffnungsfroh seine Vermutung über ein Ende der Gewalt:

“Warum hat die Französische Revolution ein Ende genommen? Warum wurden die Menschen mit einem Schlag dieser Blutorgie überdrüssig? Darüber wissen wir nichts. Mit einem Mal, ohne ersichtlichen Grund, ließen die Menschen davon ab, und die Gier nach Blut verschwand. Und vielleicht ist es einfach so, ohne wirklichen Grund, auf konfuse Weise und wenig spektakulär, dass der Islamische Staat enden wird.”
Michel Houellebecq

Ich bin kein Historiker, aber vermutlich fänden die meisten derer den Analogieschluss zwischen den französischen Revolutionären und den zurückgebliebenen Fanatikern von Daish zumindest mutig. Immerhin mag man erkennen, dass die reine Gewalt niemals ein konstruktiver Ansatz in der Durchsetzung einer politischen Idee gewesen ist.

Viel interessanter finde ich folgendes Zitat von Tocqueville, das Houellebecq als Referenz auf sein eigenes Ideenwerk zitiert:

“Ich will mir vorstellen, unter welchen neuen Merkmalen der Despotismus in der Welt auftreten könnte: Ich erblicke eine Menge einander ähnlicher und gleichgestellter Menschen, die sich rastlos im Kreise drehen, um sich kleine und gewöhnliche Vergnügungen zu verschaffen, die ihr Gemüt ausfüllen.
[…]
Über diesen erhebt sich eine gewaltige, bevormundende Macht, die allein dafür sorgt, ihre Genüsse zu sichern und ihr Schicksal zu überwachen. Sie ist unumschränkt, ins Einzelne gehend, regelmäßig, vorsorglich und mild. Sie wäre der väterlichen Gewalt gleich, wenn sie wie diese das Ziel verfolgte, die Menschen auf das reife Alter vorzubereiten; stattdessen aber sucht sie bloß, sie unwiderruflich im Zustand der Kindheit festzuhalten; es ist ihr recht, dass die Bürger sich vergnügen, vorausgesetzt, dass sie nichts anderes im Sinne haben, als sich zu belustigen.”
Alexis de Tocqueville in “Über die Demokratie in Amerika”, zitiert von Michel Houellebecq

Man könnte meinen, diese Zeilen beziehen sich auf die mächtigen jungen Konzerne, wie den freundlichen Diktator Amazon oder auch Facebook; oder aber es ginge um eine Rezension von der (simpel gestrickten, wie ich finde) Dystopie “The Circle”, wo die Freiheit des Individuums von der sozialen Dauerüberwachung geschluckt wird und der Einzelne zum sozialnetzwerkkompatiblen Automaten verkommt. Tatsächlich entstanden ist diese Schrift 1835, also sehr lange vor Internet, Smartphones, vermeintlichem Twitter- und Instagram-Individualismus und vermeintlicher Bevormundung durch die Content-Generateure, die mit Browser-Spielchen das Volk bei Laune halten.

Es ist also nichts anderes als intellektuelle Arroganz der Intellektuellen aus Europa, die in Amerika schon immer ein effizient und gut organisiertes Land sahen, welches aber in intellektueller Hinsicht reichlich simpel gestrickt ist? Haben die Kulturpessimisten, die Europa schon immer kulturell überlegen gegenüber Amerika sahen aufgrund der ganz aktuellen Entwicklungen sogar recht, weil ein möglicher Präsident wie Donald Trump das Land mit seiner schieren Dummheit in den Kollaps führen könnte? Immerhin, da sind sich viele Beobachter einig, hätte Trump ohne Twitter und Facebook keine realistische Chance, seine Botschaft unters Volk zu streuen. Paradoxerweise sollten gerade diese sozialen Medien eine universelle (weil staaten- und kulturenübergreifende) Demokratisierung der Welt ermöglichen. Seit dem Chaos in der arabischen Welt, das nach der ersten “Twitter-Revolution” ausbrach, mag darüber niemand mehr so recht sprechen.

Als letztes Zitat aus seiner Rede kommen wir nun noch zu einem Thema, dass in jedem von Houellebecqs Romanen immer eine wichtige Rolle spielte: Sex, in allen Ausprägungen in Varianten. Prostitution, Swinger-Clubs, ständig wechselnde Affären erfolgreicher Männer – all das ist zumindest aus der männlichen (um nicht zu sagen: chauvinistischen) Wahrnehmung des Autors ganz wesentliches Element des erfüllten Lebens. In seiner Dankesrede sagt er nun, anlässlich der Pläne die Prostitution in Frankreich vollständig zu verbieten und nach schwedischem Vorbild die Kunden zu bestrafen:

“Die Prostitution abschaffen heißt, eine der Säulen der sozialen Ordnung abzuschaffen. Das heißt, die Ehe unmöglich zu machen. Ohne die Prostitution, die der Ehe als Korrektiv dient, wird die Ehe untergehen, und mit ihr die Familie und die gesamte Gesellschaft. Die Prostitution abzuschaffen, das ist für die europäischen Gesellschaften einfach ein Selbstmord.”
Michel Houellebecq

Ein bisschen fragt man sich natürlich, ob diese Äußerung primär provozieren soll und er damit mehr Aufmerksamkeit für seine Rede auf den Online-Zeitungen erreichen will. Bei Spiegel Online hat’s jedenfalls mit einer Referenz auf “Prostitution” im Abstract gekappt. Aber was versteht Houellebecq als “Korrektiv für die Ehe”? Geht er zunächst von der nicht unplausiblen, und auch in der Wissenschaftsgemeinde durchaus geteilten Auffassung aus, dass der Mensch als liebendes Wesen für die serielle Monogamie gemacht ist, und eben nicht für einen einzelnen Sexualpartner für den Großteil seines Lebens? Dass die Rolle der anderen Partner substituiert werden kann, in dem der Ehemann vorgeblich lebenslang monogam lebt, aber verdeckt seinen Spaß mit Prostituierten hat?

Diese Interpretation scheint mir unvollständig und vor allem rückwärtsgewandt in dem Sinne, dass die Annahme zugrundeliegt, dass die monogame Ehe das einzig bürgerlich akzeptierte Lebensmodell innerhalb der “sozialen Ordnung” ist und auch bleiben wird. Sowohl die Nachsichtigkeit in Bezug auf den Chauvinismus der Elite, speziell in Frankreich (siehe Präsident Hollande und dessen Affären) als auch Houellebecqs Hypothese zur Prostitution ist vor allem eines: Eine isoliert männliche Sicht auf die Sexualität.

Es ist in meinen Augen völlig irrelevant für das zukünftige Zusammenleben und Lieben der Menschen und den resultierenden sozialen Ordnungen, ob ein vollständiges Verbot der Prostitution nun kommen wird oder nicht. Eine wirklich freie und offene Gesellschaft wird allen Spielarten der Sexualität – Beziehungen, Affären, Swinger-Clubs, Polyamorie oder was in dieser Hinsicht noch alles kommen wird – deutlich offener gegenüber stehen, als es die bürgerliche Mehrheit heute tut. Mit dem Gedanken einer transparenten (bis hin zu: sozial überwachten) und vereinheitlichten (im Sinne von: die Regeln des Spiels gelten für alle gleich) wie in Tocqueville Dystopie ist diese Idee im übrigen durchaus kompatibel. Auch wenn ich nicht glaube, dass diese Ideen sich in irgendeiner Weise bedingen. Damit endet das Zeitalter des Chauvinismus, weil Frauen und Männer, Homo- und Heterosexuelle, asexuell und polyamor lebende in gleichem Maße profitieren: Das moralische Schauspiel, die Verlogenheit der Sexualmoral wird keinen Sinn mehr machen; jeder macht einfach das, was seine(n/m) (Spiel-)partner(n) gefällt und lässt das sein, was nicht gefällt.

Das Zeitalter der Chauvi-Eliten wird enden. Zeit für einen Neuanfang mit einer Freiheit, die von außen betrachtet vielleicht als konformistisch wahrgenommen wird, aber im Inneren grenzenlosen Hedonismus zulässt. Nicht die schlechteste aller Welten.