Faszinierende Literatur 6 | Wenig faszinierende Erkenntnisse 22

09Sep
2021

Unlängst habe ich das zur Weltliteratur zählende Werk “Rot und Schwarz” von Stendhal gelesen (mangels Kenntnis der französischen Sprache auf Deutsch). Es ist eine wunderbare Reise durch die Welt der höfischen und klerikalen Heuchelei. Der Begriff der Liebe spielt eine ganz zentrale Rolle und doch behaupte ich, dass wahre Liebe an keiner Stelle vorkommt. Stattdessen lesen wir von einem Begriff der Liebe, der Stolz und Eitelkeit bedient sowie von einer Liebe, die zu Karrierezwecken nützlich erscheint. Heute würde man dies wohl als “hochschlafen” abqualifizieren, jedoch durch einen männlichen Protagonisten (Julian), der sich Macht und Einfluss sichern will, in dem er sich jeweils an die am höchsten stehende Dame des Hauses heranmacht. Welch emanzipatorischer Akt, könnte man retrospektiv sagen.

Himmelweit entfernt von der Ungebundenheit des Naturmenschen, gehörte Julian bereits zu den Sklaven der Überkultur, denen die Liebe nichts ist als eine langweilige, konventionelle Sache. Eitel und kleinlich sagte er sich: »Ich bin es mir unbedingt schuldig, bei dieser Frau zum Ziele zu kommen. Sollte ich je berühmt werden, und es würfe mir jemand diesen armseligen Hauslehrerposten vor, so kann ich andeuten, die Liebe hätte mich in diese Stellung geführt.«

Er kommt, zumindest zwischenzeitlich, zum Ziel bei seiner Arbeitgeberin und strebt doch nach “Höherem”. Nach was genau, kann man schwer sagen, aber man kann es sich wohl so ähnlich wie bei einem modernen Karrieristen vorstellen, der immer auf dem Weg zur nächsten Beförderungsstufe ist. Nur seine Mittel sind andere: “Liebe” in Form eines psychologischen Schachspiels, dass diejenige (oder derjenige) verliert, die zuerst ihre Zuneigung zeigt. Von wahrer und langfristiger Liebe scheint Stendhal ohnehin wenig zu halten:

Die moderne Ehe hat sonderbare Begleiterscheinungen. Ist vor der Heirat Liebe vorhanden, so stirbt sie sicher in der Langweile des ehelichen Beieinanders. Zumal bei Eheleuten, die reich genug sind, um nicht arbeiten zu müssen, stellt sich gründlicher Widerwille gegen das geruhsame Eheglück ein. Und nur die phantasielosen Frauen gehen an Liebschaften und Liebeleien vorbei, anstatt sich kopfüber in sie zu stürzen.

Moderner und etwas positiver interpretiert könnte man im Lob der “Liebelei” schon fast so etwas wie eine positive Perspektive hin zur Beziehungsanarchie sehen. Ein Konzept, dass allerdings in den strengen Sitten des beginnenden 19. Jahrhunderts dann doch noch nicht als plausibles Szenario denkbar war. Stattdessen scheint Eifersucht bei Stendhal die einzig wahre Triebfeder der (aus meiner Sicht) unwahren Liebe zu sein.

Auch soziologisch gesehen, enthält das Werk die ein oder andere wenig faszinierende Erkenntnis. Hochaktuell fand ich die Feststellung:

Urbanität ist nichts als die überlegene Unfähigkeit, sich über die schlechten Manieren andrer zu ärgern.

Auch wenn sich die “Urbanität” hier auf das Leben der adeligen Gesellschaftsschicht in Paris vor etwa 200 Jahren bezieht, so könnte man sicherlich eine eben solche Kritik an den Hipstermilieus der modernen Großstädte formulieren, wobei die “schlechten Manieren” dann eher die landläufig-traditionellen Wertevorstellungen sind, die von einer liberalen Elite abgelehnt werden. Bei Stendhal wird mit diesem Satz die ganze Heuchelei der “guten Gesellschaft” wunderbar pointiert zusammengefasst. Etwas ausführlicher erkennt der Protagonist am Ende seiner Reise:

»Ich habe mich durch den Schein narren lassen«, sagte er sich. »Sonst hätte ich erkennen müssen, daß es in der sogenannten guten Gesellschaft von Biedermännern vom Genre meines Vaters und von gerissenen Halunken vom Schlage der beiden Zuchthäusler wimmelt. Je mehr sie zu essen und zu trinken haben, um so mehr protzen sie mit ihrer anständigen Gesinnung und ihrer Ehrlichkeit. Und wenn sie Geschworene sind, so verurteilen sie von oben herab einen armen Schlucker, der einen silbernen Löffel genommen hat, um nicht zu verhungern. Gilt es aber, ein Ministerportefeuille zu verlieren oder zu gewinnen, dann fallen diese Ehrenmänner des Salons in genau die nämlichen Verbrechen wie jene Zuchthäusler. Es gibt kein natürliches Recht. Das ist veralteter Blödsinn, albernes Gerede von Staatsanwälten, deren Vorfahren selber Gauner waren. Es gibt nur ein Recht: die Macht, die diese oder jene Handlung unter Strafandrohung verbietet. […]«

Natürlich teile ich diese vollständige Absage an den Rechtspositivismus nicht. Dennoch muss man sich fragen, wie viel weiter wir 200 Jahre wirklich sind, wenn nach wie vor deutlich mehr People of Color in Amerikas Gefängnissen sitzen als Weiße oder noch keiner der Protagonisten des Cum-Ex-Betrugs in Deutschland verurteilt wurde.

Selbstkritische Betrachtungen 14 | Wenig faszinierende Strukturen 1

21Mar
2021

Auch im Jahr 2021, nach all den “Black Lives Matter”-Demonstrationen, in einer Zeit, in der der erste Schwarze Präsident Amerikas, Barack Obama, nun als Elder Statesman mehr geschätzt wird denn je (insbesondere im Vergleich zu seinem Amtsnachfolger) – der strukturelle Rassismus ist und bleibt ein Problem. Spätestens nach der Lektüre von “Alice Hasters: Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen aber wissen sollten” wird man unweigerlich zu dieser Erkenntnis gelangen (alle folgenden Zitate daraus).

“Vor allem ist es wichtig, eines zu verstehen: Es gibt keine Menschenrassen. Es gibt allerdings die Erfindung der Menschenrassen — die Rassifizierung. Sie dient dazu, eine Hierarchie zwischen Menschengruppen zu etablieren.”

Diese Erkenntnis mag in meiner linksliberalen Filterblase heutzutage nahezu banal klingen. Ich glaube, dass sie das über weite Teile der Gesellschaft nicht ist. Ich bin in einem Umfeld aufgewachsen, in dem ich niemanden einen aktiven Rassismus unterstellen möchte, aber in dem doch gewisse Klischees und fragwürdige Begrifflichkeiten nicht völlig verschwunden waren. Da wurden beispielsweise die unsäglichen Äußerungen einer Fürstin von Gloria von Thurn und Taxis zu übertragbaren Sexualkrankheiten in Afrika belustigt kommentiert “so etwas darf man eben nicht sagen”. Und genau deswegen ist so ein Buch so wichtig: Weil es nicht darum geht, was man “nicht sagen darf”, sondern, dass man ein Verständnis dafür entwickelt, welcher rassistische Unsinn immer noch in tradierten Klischees weiterlebt. Ist dieses Verständnis erst einmal gewonnen, wird man sich vielleicht weniger die Frage stellen, was man noch sagen darf, sondern was man eben einfach nicht mehr sagt, weil man selbst zu der Erkenntnis gelangt ist, dass es Unsinn ist.

Verständnis für das Alltagserleben Schwarzer Menschen (ich übernehme hier die Großschreibung wie im zitierten Werk) bekommt man jedenfalls, wenn man sich die unzähligen Diskriminierungserfahrungen zu Gemüte führt, die sie beschreibt:

“Wie damals, als ich dreizehn Jahre alt war und mit einer Freundin und ihrer Familie Urlaub auf Mallorca machte. An einem Tag gingen wir auf den Markt. Unter den Verkäufer*innen waren viele Deutsche. Wir machten Halt an einem Schmuckstand und inspizierten still die einzelnen Stücke, bis mich der deutsche Mann hinter dem Stand auf Englisch anbrüllte, ich solle abhauen. Er hielt mich für eine Diebin.
[…]
Du hast einen richtig schönen N**erpopo«, sagte einmal mein Kommilitone Martin zu mir, als wir eine Choreografie in engen Leggins übten. Es sollte ein Kompliment sein. Ich fühlte mich, als ob mir jemand ins Gesicht geboxt hätte, und konnte ihn nur geschockt anschauen.”

Ich denke, es ist schwer bis unmöglich sich als weißer heterosexueller Cis-Mann in solche unschönen Erfahrungswelten hineinzuversetzen. Vieles kann man im Leben verändern oder verstecken – die Sprache, die Religion, die Frisur. Die Hautfarbe (wie auch das Geschlecht) nicht. Und natürlich muss man sich fragen, welche wenig faszinierenden Strukturen am Werk sind, wenn der weiße (insbesondere weibliche) Körper in der Werbung mehr wert ist als der von Schwarzen:

“Serena Williams hatte 2013 ein Einkommen von 20 Millionen Dollar. Ihre weiße Konkurrentin Marija Scharapowa, die im selben Jahr gegen Williams verlor, verdiente mehr Geld — 29 Millionen Dollar. Denn sie bekam mehr Werbedeals, mehr Sponsoring. Schmuck und Uhren verkaufen sich anscheinend besser an einer weißen blonden Tennisspielerin als an einer Schwarzen Frau von Weltklasse mit breitem Kreuz und großen Oberschenkeln.”

Natürlich sollte man kritisch darüber nachdenken, welche rassistischen Stereotypen mit diesem Marktgeschehen in Verbindung verstehen. Abwegig wird es aus meiner Sicht allerdings, wenn die Fokussierung auf die Körperlichkeit im Leistungssport unter Generalverdacht gestellt wird:

“Dass Menschen überhaupt etwas zu Serena Williams’ Körper sagen, wenn es doch eigentlich um Tennis geht, ist ein weiterer Fall von gegendertem Rassismus. Im Tennis spielt Körperform keine Rolle.”

Hier stimme ich Alice Hasters einfach nicht mehr zu. Zur Vermarktung von Leistungssport gehört die Inszenierung ästhetischer Körper nun mal dazu – je nach Sportart mal mehr mal weniger. Man kann diesen Körperkult sehr kritisch sehen, ich sehe beispielsweise die gesamte Welt des Leistungssports extrem kritisch. Es ist eine Art der Unterhaltung, die viele Verlierer produziert, unter denen die es nicht bis an die Spitze geschafft haben, die Menschen von geistiger Betätigung abhält in den Jahren, in denen das Gehirn am lernfähigsten ist, und der Spitzensport hat (in absoluten Zahlen) ein noch größeres Problem an sexuellem Missbrauch hat als die Kirche. Aber das ist ein anderes Thema. Wer sich auf das Business des Leistungssport einlässt, der muss akzeptieren, dass Werbeeinnahmen wenig mit sportlichen Fähigkeiten, sondern vielmehr damit zu tun haben, wie man sich für ein breites Publikum vermarkten kann. In diesem Kontext spielt Körperform natürlich eine Rolle.

Die Debatte über kulturelle Aneignung finde ich ebenfalls schwierig. Ich erkenne das Problem des “White Washings” durchaus an:

“Kulturelle Aneignung hat jedoch nicht mit Hip-Hop angefangen und schon gar nicht mit den Kardashians. Der »King of Rock ’n’ Roll« heißt Elvis Presley, und Frank Sinatra wird bis heute als bester Jazzsänger aller Zeiten gefeiert, obwohl diese Musikrichtungen ohne Afroamerikaner*innen nicht entstanden wären. Schwarze Kultur durchläuft seit Jahrzehnten ein White Washing — Schwarze Akteur*innen werden durch weiße Menschen ersetzt, die es dann in den Mainstream schaffen, Geld verdienen und Einfluss auf die Gesellschaft haben.

Das ändert aber erst mal nicht daran, dass Kultur dadurch entsteht, dass verschiedene Einflüsse stetig neu kombiniert werden. Dass künstlerische Ideen von Schwarzen Künstler:innen sich von von weißen Menschen besser vermarkten lassen, deutet natürlich auf strukturellen Rassismus hin, aber alleine die Adaption eines Musikstils kann man in meinen Augen weißen Menschen nicht als Rassismus vorwerfen. Vielleicht mag dies jemand als künstlerische Einfältigkeit sehen, beurteilen kann ich das nicht. Mit Hip-Hop, Rock ‘n’ Roll und Jazz kenne ich mich nicht aus.

Schlussendlich finde es seltsam, dass selbst jemand wie Böhmermann von ihr abgeurteilt wird. Unabhängig davon, ob man ihn witzig oder nervig findet, ihm zu unterstellen, dass er “sich als weißer Typ über PoC lustig macht und deren Erfahrungen mit Polizeigewalt auf die Schippe nimmt” finde ich eine abwegige Interpretation seines “Ich hab’ Polizei“-Songs.

Faszinierende Metastrategien 17 | Wenig faszinierende Erkenntnisse 21

28May
2020

Auf das Münchener Projekt BISS wurde ich erst durch einen Artikel über die Photographien von Rainer Viertlböck so richtig aufmerksam, der die Wohnungen der BISS-Zeitungsverkäufer für eine Ausstellung abgelichtet hat. Auch wenn ich mich an den ein oder anderen Verkäufer der BISS-Straßenzeitung, deutlich erkennbar mit umgehängten Ausweis, durchaus erinnern konnte, war mir nie so richtig klar, worin der Inhalt dieser Zeitung besteht oder gar was das Ziel des Projekts ist. Vielleicht gingen diese kurzen Eindrücke im Rahmen der begrenzten Aufmerksamkeitskapazität im reizüberfluteten Großstadtleben auch einfach ein wenig unter.

Die Verkäufer sind oft ehemalige Obdachlose, in jedem Fall Menschen die auf dem ersten Arbeitsmarkt keine Chance (mehr) haben. Für einen Moment mag man sich fragen “Und warum verkaufen die jetzt Zeitung? Können diese Menschen nicht eine Ausbildung/Weiterbildung/etc. machen und wieder regulär in einfachen Jobs arbeiten?” Wenn man ein wenig mehr darüber nachdenkt oder sich mit der Thematik näher beschäftigt, wird klar, dass das alles nicht so einfach ist. Auch wenn theoretisch in Deutschland niemand betteln muss: Der Weg durch den Ämter- und Formularejungle bei behördlichen Angelegenheiten ist selbst für den ein oder anderen Akademiker durchaus anstrengend. Für Menschen mit psychischen Problem, Suchterkrankungen, sehr geringen Sprachkenntnissen ist dieser Weg oftmals unmöglich. Vor allem: Die Straße ist deren einziges vertrautes Terrain. Gleichzeitig aber ist Betteln oder Flaschensammeln als einziges Tagesgeschäft keine würdevolle Tätigkeit.

In diesem Sinne sehe ich es als eine faszinierende Metastrategie, auf die Anliegen und Sorgen von “Bürgern in sozialen Schwierigkeiten” (wofür das Akronym BISS steht) mit einer regelmäßig erscheinenden Publikation zu diesem Thema aufmerksam zu machen, und gleichzeitig jenen Bürgern ein Auskommen zu bieten. Eine feste Stelle, die immerhin dazu reicht, sich eine kleine Wohnung in der teuren bayerischen Landeshauptstadt leisten zu können. Die Bilder von Rainer Viertelböck zeigen sehr kleine Domizile, die aber doch eben so viel mehr sind auf dem Weg zurück in ein normales Leben als ein Bretterverschlag unter einer der Isarbrücken. Dazu können die Angestellten auf der Straße, ihrem vertrauten Terrain, ihrer Arbeit nachgehen. Noch dazu liefern sie, unter Anleitung von Journalisten, selbst kleine Textbeiträge über ihre Geschichte und ihr Leben. Die BISS-Verkäufer können mit Käufern ins Gespräch kommen und haben vor allem eine legitime Grundlage für ihre Präsenz in der Öffentlichkeit, anstelle des schambehafteten Daseins als Bettler. Wer lieber einer handwerklichen Tätigkeit auf dem Weg zurück in ein normales Leben nachgehen möchte, für den gibt es auch das Partnerprojekt einer Fahrradwerkstatt.

Als ich während der Corona-Ausgangsbeschränkungen (eine Zeit, in der der Straßenverkauf von BISS temporär untersagt war) eine kleine Spende an das BISS-Projekt richtete, bekam ich mitsamt der Spendenbescheinigung auch die Jubliläumsausgabe von 2018 zugeschickt. Darin wurde unter anderem vom BISS-Hotelprojekt berichtet, welches 2011 leider gescheitert ist:

“Die gemeinnützige und mildtätige Stiftung BISS beabsichtigt, das alte Münchner Frauen- und Jugendgefängnis Am Neudeck unter Einhaltung des Denkmalschutzes und Erhalt des alten Baumbestands in ein Hotel der gehobenen Klasse umzubauen, um damit 40 jungen Menschen in besonderen sozialen Schwierigkeiten eine umfassende, erstklassige Ausbildung und Qualifizierung zu ermöglichen.
[…]
Nachdem die CSU/FDP-Ab-geordneten im Haushaltsausschuss gegen einen Freihandverkauf an BISS gestimmt hatten, wurde ein Bieterverfahren durchgeführt. Der Freistaat machte nicht von der ausdrücklich im Bayerischen Haushaltsrecht verankerten Möglichkeit Gebrauch, einem dem Gemeinwohl dienenden Bieter den Vorzug zu geben. […] Im Mai 2011 gab die Bayerische Staatsregierung einem anonymen, kommerziellen Immobilieninvestor den Zuschlag für das alte Frauengefängnis Am Neudeck.”
aus: BISS, Oktober 2018

Es ist eine wenig faszinierende Erkenntnis, dass so ein ambitioniertes soziales Projekt der kalten Logik der Gewinnmaximierung von staatlicher Seite weichen musste.

Faszinierende Literatur 5 | Wenig faszinierende Erkenntnisse 20

13Apr
2020

Wenn es etwas Positives an der derzeitigen Covid-19-Pandemie gibt, dann sicherlich die Tatsache, dass man wieder deutlich mehr Zeit zum Lesen hat. In diesem Sinne setze ich meine Reise durch die (Welt-)Literatur in diesem Blogbeitrag fort, und widme mich dem Werk “Schöne neue Welt” von Aldous Huxley.

Oft wird Huxleys Dystopie mit George Orwells “1984” verglichen, vereint die beiden fiktiven Szenarien eine mehr oder weniger weltumspannende totalitäre Diktatur, die bis tief in die privatesten Lebensbereiche vordringt. Mit Hilfe von Wissenschaft, Bürokratie und Technologie wird in beiden Werken ein unangreifbares Regime geschaffen, das mit Hilfe ganz klarer Hierarchien sich seine Bürger untertan macht. Doch im Vergleich zu 1984 finde ich Huxleys Weltentwurf deutlich subtiler. Insbesondere in den philosophischen Diskussionen im letzten Drittel des Textes sind etliche Beobachtungen und Gedanken von geradezu frappierender Aktualität. Damit meine ich beispielsweise Parallelen zwischen der Kastengesellschaft bei Huxley und der (digitalen) Spaltung der Gesellschaft heutzutage. Digitales Prekariat und Mindestlohnempfänger auf der einen Seite, die digitale Elite und Empfänger der satten Rendite auf der anderen Seite. Für den Weltaufsichtsrat in der schönen neuen Welt ist die Legitimation dieses Klassenunterschieds keine Frage:

“Ein Mensch, der als Alpha entkorkt und genormt ist, würde wahnsinnig werden, wenn er die Arbeit eines Epsilon-Halbidioten verrichten müßte; er würde wahnsinnig werden oder alles kurz und klein schlagen. Alphas können der menschlichen Gemeinschaft perfekt eingefügt werden, aber nur, wenn man ihnen Alpha-Arbeit überträgt. Nur ein Epsilon kann die Opfer eines Epsilons bringen, aus dem einfachen Grund, daß sie für ihn keine Opfer bedeuten, sondern der Weg des geringsten Widerstands sind.”
(Der “Weltaufsichtsrat” Mustafa Mannesmann in “Schöne neue Welt”)

Würde dieses Denken, auf die heutige Zeit übertragen, etwa bedeuten, dass es kein Opfer für die Vollbringer der einfachen Botendienste und Reinigungskräfte ist, ihre Arbeit zu vollbringen, sondern ihre einzig glücklichmachende Bestimmung? Ein Gedanke, der geradezu absurd scheint, wenn man die Idee der Chancengerechtigkeit ernst nimmt. Aber was passiert, wenn die Aufstiegs- und Bildungschancen in einer Gesellschaft erst einmal so ausgeprägt sind, dass praktisch jeder nur noch intelligente Kopfarbeit verrichten möchte? Wenn dazu passend, alle einfachen, körperlichen Arbeiten irgendwann einmal automatisiert sind (was nicht so schnell der Fall sein wird, wie ich schon einmal ausgeführt habe)? Haben wir dann eine Gesellschaft ähnlich wohlhabender, ähnlich intelligenter Kopfarbeiter, die gemeinsam die digitale, globalisierte Welt gestalten? Für den Weltaufsichtsrat bei Huxley scheint dies keine gute Idee zu sein, da dieses Experiment innerhalb der Fiktion schon einmal nicht funktioniert hat:

“Die Aufsichtsräte ließen die Insel Zypern von allen Einwohnern säubern und mit einer eigens angelegten Zucht von zweiundzwanzigtausend Alphas neu besiedeln. Man gab ihnen komplette Ausstattungen für Landwirtschaft und Industrie und überließ sie sich selbst. Das Ergebnis entsprach haargenau den theoretischen Voraussagen. Der Boden wurde nicht ordentlich bestellt, in den Fabriken gab es Streiks, die Gesetze wurden mißachtet, Befehle nicht befolgt, alle die, die für einige Zeit untergeordnete Arbeiten verrichten mußten, intrigierten unablässig um höhere Posten, und die Höhergestellten spannen Gegenintrigen, damit sie um jeden Preis auf ihren Plätzen bleiben konnten. Binnen sechs Jahren gab es einen prima Bürgerkrieg. Als neunzehntausend von den zweiundzwanzigtausend Alphas gefallen waren, richteten die Überlebenden geschlossen eine Eingabe an den Weltaufsichtsrat, die Regierungsgewalt über die Insel wieder zu übernehmen. Was auch geschah. So endete die einzige Alphagesellschaft der Welt.”
(Der “Weltaufsichtsrat” Mustafa Mannesmann in “Schöne neue Welt”)

Im Grunde sind wir mit der steigenden Automatisierung der Arbeit und der Akademisierung der Bildung heute nahe an einer “Alphagesellschaft”. Gleichzeitig beobachtet man, wie beispielsweise Kämpfe um günstigen Wohnraum in den begehrten Zentren der Welt heftiger geführt werden. Trotz aller Produktivitätsgewinne (die sich im Wirtschaftswachstum zeigen) steigt der Abstand zwischen den “vermögendsten 1%” und der akademisch gebildeten Mittelschicht in allen Industrieländern. Menschen, die qua Bildung und Intellekt eigentlich der Huxleyschen “Alpha”-Status haben, konkurrieren um die gleichen Posten und Renditen. Ist das eine Gesellschaft, die das Potential hat, in einem Bürgerkrieg zu münden?

Eine andere, gerade zu Covid-19-Zeiten sehr aktuelle Überlegung, ist der Konflikt zwischen dem wirtschaftlich “richtigen” Handeln und dem, was die Wissenschaft für richtig hält. Bei Huxley haben sich die Befürworter des ewig sich drehenden Räderwerks durchgesetzt:

“Merkwürdig, was die Menschen zu Lebzeiten Fords des Herrn über den Fortschritt der Wissenschaft geschrieben haben. Sie schienen sich einzubilden, daß die Wissenschaft ewig fortschreiten dürfe, ohne Rücksicht auf alles übrige. Erkenntnis war das höchste Gut, Wahrheit der erhabenste Wert, alles andere war nebensächlich und untergeordnet. Allerdings begannen sich schon damals die Anschauungen zu verändern. Ford der Herr selbst trug viel dazu bei, das Schwergewicht von Wahrheit und Schönheit auf Bequemlichkeit und Glück zu verlegen. Die Massenproduktion verlangte diese Verlagerung. Allgemeines Glück läßt die Räder unablässig laufen; Wahrheit und Schönheit bringen das nicht zuwege. Und natürlich ging es, sooft die Massen an die Macht kamen, stets mehr um Glück als um Wahrheit und Schönheit.”
(Der “Weltaufsichtsrat” Mustafa Mannesmann in “Schöne neue Welt”)

Ich finde diese Überlegungen äußerst spannend in einer Zeit, in der wir darüber streiten, ob man die Wirtschaft nicht abwürgen sollte, oder lieber alles tun sollte, um möglichst viele Menschen vor der Covid-19 Pandemie zu retten. Man kann sich in rein quantitative Überlegungen flüchten (“Wie viel ist ein Menschenleben wert” – ein ganz üblicher Vorgang bei der Berechnung von Versicherungssummen), aber man kann natürlich auch verschiedene moralphilosophische Überlegungen anstellen. Geht es darum den Gesamtnutzen für alle Menschen zu maximieren (Utilitarismus)? Die politische Realität, insbesondere bei der Klimakatastrophe, zeigt, dass sich dies in den westlichen Demokratien nicht abbilden lässt. Tatsächlich agieren die westlichen Industriestaaten eher so, als wären sie eine Gesellschaft der Alphas und Betas, denen die Lebensgrundlagen der austauschbaren Epsilons aus fernen Länden nicht so wichtig sind, weil einige einflussreiche Alpha-Plus Entscheider unsere lokale Wirtschaft über alles stellen und nur die gut situierten Bürger zur Wahl gehen und teure Produkte konsumieren. Ein wenig faszinierende Erkenntnis.

Aber andererseits sind in der schönen neuen Welt – wenn auch jeweils stark überzeichnet – allerlei Ideen enthalten, die heute als modern und fortschrittlich gelten. Teilweise sind das Ideen, für die sich heute Mehrheiten finden, die aber in dem 1932 erschienen Werk in der damaligen Gesellschaft kaum akzeptiert waren. Die Legalisierung von Drogen, die sexuelle Freizügigkeit, die Pränataldiagnostik, die Erforschung der Gentechnik, das Streben nach individuellem Glück oder die größere Unabhängigkeit zwischen den Generationen sind alles Punkte, die man heute in progressiven politischen Agenden lesen kann. Wohin entwickelt sich eine Welt voller Individuen, die ihr Glücksempfinden und ihren Wohlstand maximieren wollen, und mit klassischen Strukturen wie Staaten oder Familien (jeweils im Sinne einer Solidargemeinschaft) wenig anfangen können? Lässt sich dies irgendwann nur durch eine Alpha-Plus-Diktatur einhegen, die zwar die Auflösung der alten Strukturen (zugunsten einer neuen Struktur) vorantreibt, das individuelle Glück vorschreibt, dabei aber wahre Erkenntnis und Wissenschaft verbietet? Leben wir vielleicht schon in so einer Diktatur, wenn die Erkenntnisse der Wissenschaft bezüglich dem Klimawandel zwar nicht verboten, aber doch von der herrschenden Klasse fast vollkommen ignoriert werden oder durch Fake News in der Aufmerksamkeitsökonomie untergehen?

Oder löst sich das ganze Problem gerade von selbst, weil wir als vermeintliche westliche Elite, in den Zeiten von Covid-19, die Überlegenheit kollektivistischer Gesellschaften wie derjenigen in China nun einsehen müssen? Eine wenig faszinierende Aussicht.

Faszinierende Literatur 3 | Das Drama der Menschheit 12

07Jul
2019

“Der psychologische und physiologische Mechanismus der Liebe ist so kompliziert, daß ein junger Mann sich in einem bestimmten Lebensabschnitt fast ausschließlich auf dessen Beherrschung konzentrieren muß und der eigentliche Inhalt der Liebe ihm entgeht — die Frau, die er liebt (ähnlich etwa wie ein junger Geiger sich nicht gut auf den Inhalt einer Komposition konzentrieren kann, solange er die manuelle Technik nicht soweit beherrscht, daß er beim Spielen nicht mehr daran denken muß).”
Milan Kundera in “Der Scherz”

Jenseits der inspirierenden Einsichten von Kundera in die Liebe, das Zwischenmenschliche und die Individualität ist “Der Scherz” geprägt von einer gewissen Bewunderung für kommunistische Ideen und gleichzeitig eine wachsende Abscheu und Verachtung gegenüber dem sozialistischen System, dem Totalitarismus, dem Kampf gegen alles Individuelle, gegen alles, was dem System nicht vollkommen konform ist. Faszinierend fand ich auch die Einsicht, wie einer der loyalen Verteidiger der sozialistischen Einparteiendiktatur den Totalitarismus gegenüber dem Protagonisten verteidigt (der für einen harmlosen Scherz innerhalb eines privaten Briefs über Trotzki für fünf Jahre Militärdienst in einer Kohlegrube absolvieren musste):

“In Ihrem Streit mit der Partei stehe ich nicht auf Ihrer Seite, Ludvik, denn ich weiß, daß man die großen Dinge auf dieser Welt nur mit einem Kollektiv von grenzenlos ergebenen Menschen schaffen kann, die ihr Leben demütig für einen höheren Zweck hingeben. Sie, Ludvik, sind nicht grenzenlos ergeben. Ihr Glaube ist zerbrechlich. Wie könnte es anders sei, da Sie sich ständig nur auf sich selbst und Ihren kläglichen Verstand berufen haben!”
(gleiche Quelle)

Wenn wir aus dieser Geschichte etwas lernen können, dann vielleicht dies: Jede Idee, die man nur mit einem Kollektiv von grenzenlos ergebenen Menschen realisieren kann, ist keine Idee, die es Wert ist, realisiert zu werden. Jede Idee, die keinen kritischen Widerspruch verträgt, die keine kritische Debatte verträgt, die für Zweifler, Rationalisten oder Individualisten nur das Arbeitslager übrig hat, sollte niemals im Rahmen eines politischen Experiments zu realisieren versucht werden. Plakativer ausgedrückt (wie es Martin Schulz vor einiger Zeit in ganz anderem Zusammenhang sagte): Es ist eine Idee für den Müllhaufen der Geschichte.