In seinem sehr empfehlenswerten Buch “Wie wir lieben. Vom Ende der Monogamie” beschreibt Friedemann Karig die Monogamie als “kulturell-evolutionäre Strategie”:
“Die lebenslange Treue zu einem Menschen ist also einerseits eine kulturell-evolutionäre Strategie, wie man als sesshafte Spezies am besten das Land bestellen konnte. Und andererseits, auf gesellschaftlicher Ebene, ist Monogamie ein effektives politisches Steuerungsinstrument.”
Man mag es als Reich der Spekulation abtun; aber viele Frühhistoriker haben Zweifel daran, dass die umherziehenden Jägerinnen und Sammler ihre Sexualität innerhalb monogamer Partnerschaften auslebten. Viel wahrscheinlicher ist eine vergleichsweise freie Liebe, wobei natürlich ranghöhere Mitglieder der Gruppe mehr Möglichkeiten zur sexuellen Entfaltung hatten als rangniedrigere (ähnlich wie bei unseren nächsten Verwandten, den Affen).
Sehr wahrscheinlich ist, dass “klare Verhältnisse” zweier Zusammenlebender für das erfolgreiche Aufziehen des Nachwuchses hilfreich waren. Die neolithische Revolution war vor allem deshalb erfolgreich, weil sie zu mehr lebensfähigen Nachkömmlingen führte, aber nicht etwa weil sie das bessere Leben bot. Zu diesem Thema seien auch die Ausführungen von Yuval Noah Harari in “Die kurze Geschichte der Menschheit” sehr empfohlen. Heute spielt es für die physische Lebensfähigkeit des Nachwuchses im Grunde genommen keine Rolle mehr, ob ein Kind in einer großen WG oder einer klassischen Familie aufwächst.
Warum hält sich diese, in meinen Augen wenig faszinierende, “kulturell-evolutionäre” Strategie so hartnäckig? Ich möchte behaupten: Weil sie Teil einer soziokulturellen Konstruktion ist, eines tradierten Wertekonzepts, welches uns von klein auf als ein Ideal angepriesen wird und vorgelebt wird. So sehr junge Leute heute früh ihre Erfahrungen mit Sexualität machen, Pornographie konsumieren, sich ausprobieren und ihre Orientierung oder auch ihr Geschlecht immer mal wieder in Frage stellen: es bleibt der Grundkonsens, dass auf eine “Ausprobier- und Auslebephase” dann ein “Settlement” folgen muss. Einen Partner finden, vermeintlich für immer, und wenn es doch nicht klappt, dann eben einen weiteren. Serielle Monogamie nennt man dieses Konzept.
Vielleicht stellt die Alternative dazu die Lebensentwürfe und denen Grundkanon an Werten, wie sie uns geradezu eingebläut werden, zu sehr in Frage, als dass dies jemals eine breitere gesellschaftliche Akzeptanz finden konnte. Das Konzept nennt sich Polyamorie und meint, dass Gefühle der sexuellen Anziehung und der emotionalen Zuneigung keineswegs auf einen Menschen beschränkt sein müssen. Dass eine langfristigere Partnerschaft nicht bedeuten muss, dass die Auslebung der Sexualität für den Rest des Lebens auf eine einzelne Person eingeschränkt ist und im Laufe der Zeit meist weniger intensiv wird – man nennt das denn Coolidge-Effekt. Dass man Leute kennenlernen kann in der Option auf “was immer sich daraus ergibt”, einschließlich emotionaler Zuneigung oder gar romantischer Nebenpartnerschaften. Ein Konzept, um die Sexualität des Menschen wieder ein Stück weit dahin zu bringen, wie es sehr wahrscheinlich einmal war. Auch wenn ich mich mit dem Adjektiv “natürlich” im Kontext der menschlichen Entwicklung sehr schwer tue (ist es natürlich, dass ich mir an einem Sonntagabend diese Gedanken machen kann, statt das Feuer schüren und den Tiger verjagen zu müssen…?) finde ich den Vergleich mit der Sportausübung sehr treffend:
“Gegen Bewegungsmangel haben wir den Sport erfunden. Was erfinden wir für natürlicheren Sex? Polyamorie? Offene Beziehungen? Kommunen gründen, in denen wir leben wie unsere Vorfahren in der Savanne?”
Friedemann Karig: Wie wir lieben. Vom Ende der Monogamie
Welches Konzept man dafür auch immer “erfindet” (im Grunde gibt es das alles schon, ist nur nicht besonders weit verbreitet): Darüber nachzudenken und ein Leben jenseits der Monogamie zu evaluieren ist eine faszinierende Metastrategie. Ich verwende das Präfix “Meta” weil das Ganze für eine Strategie zu bunt, zu vielschichtig und zu komplex ist. Ich mag Komplexität.