Der Markt der Informationen und Systeme

05Dec
2010

Es war der vorletzte Blogeintrag, in dem ich mich für die bedingungslose Verteidigung der freiheitlichen westlichen Werte angesichts des Umgangs mit Regimekritikern im nahen Osten ausgesprochen haben. Natürlich fragen sich diese Länder, woher wir uns das Recht nehmen, uns einzumischen und unsere Wertemaßstäbe auf die ganze Welt anzuwenden? Wenn wir mit einer moralischen Überlegenheit des Westens argumentieren, so sollten wir seit dem Vorgehen der Regierungen dieser Welt und den jenen zu Hilfe eilenden Unternehmen (Paypal sperrte Konten, Amazon die Server) gegen Wikileaks uns nocheinmal fragen, welche konkrete moralische Überlegenheit wir eigentlich meinen.

Natürlich kann man argumentieren, dass der Diebstahl von Informationen unter Strafe steht, dass es sogar der souveräne Wille eines Volkes ist, Gesetze zu erlassen, die die Weitergabe (vermeintlich) privater Informationen sanktionieren. Wenn man sich anschaut, wie groß der Aufschrei war, wenn eine ohnehin öffentlich sichtbare Hausfassade ins Internet gestellt wird, um daraus eine wirklich gute Anwendung zu basteln, dann mag man den Eindruck bekommen, manche Leute können ihre (vermeintlich) privaten Informationen gar nicht gut genug schützen. Ob unter denen jetzt auch welche dabei sind, die sich genüsslich ins Fäustchen lachen, wie Amerikas Diplomaten weltweit Verbündete düpieren? Vermutlich, und für viele derer wird das auch gar kein Widerspruch sein: Sie sind schließlich die Guten, während die “Mächtigen” da draußen natürlich die Bösen sind, und da gelten schließlich andere Maßstäbe an “Privatsspähre”.

Diese Unterteilung der Welt in “Gut” und “Böse” ist ein schädlicher Einfluss aus der Welt der Heranwachsenden auf die Welt der Erwachsenen. Gut und Böse gibt es in Harry Potter, gibt es im Religionsunterricht für Kleinkinder, aber sicherlich nicht in der heutigen Welt. Wo ist im Fall Wikileaks die Demarkationslinie zwischen Gut und Böse? Die Regierungen und großen Unternehmen auf der Seite des Bösen und die Medien, die Hacker die kleinen Leute auf der Seite des Guten? Auch Medien sind Unternehmer (man spricht auch von “Medienunternehmern”), sie haben viel Geld für Exklusivverträge mit Wikileaks bezahlt und sie erhoffen sich einen Return of Investment.

Für große Unternehmen wie Amazon oder Paypal gehört die Zusammenarbeit mit Regierungen zum Alltagsgeschäft – ich bin nicht mal ein großer Gegner dieser Verflechtung, lieber werde ich von den Interessen der Wirtschaft regiert, als von Leuten, die regieren wollen, weil sie gerne an der Macht sind (wie sagte O’Brien? “The object of power…”). Aber gibt es unter den Unternehmen nicht auch “gute” Unternehmen? So wie Google, von denen man nur positives hört, was den Umgang mit Mitarbeitern angeht und die mit ihrer marktbeherrschenden Stellung auch noch recht vernünftig umzugehen scheinen? Oder sogar einen geschickten Spagat zwischen Freiheit und Zensur schaffen, in dem sie die Löschungen auf Anweisung der jeweiligen Behörden zwar durchführten, aber die Anfragen anschließend im Transparency Report veröffentlichten?

Die Boykott-Aufrufe gegen Amazon werden das Unternehmen genauso wenig beeindrucken wie Westerwelle die Einschätzung, er sei inkompetent – die Reaktion darauf “Von Ihnen [die Journalisten] musste ich schon schlimmeres lesen” war durchaus weltmännisch. Was ganz und gar nicht weltmännisch ist, ist der Umgang der US-Regierung mit Wikileaks. Denn der Geist ist aus der Flasche – im Gegensatz zu gestohlenen Gegenständen, die man sich zurückholen kann, sind Informationen, die einmal in der Welt sind, für immer in der Welt. Die Welt hat mit dem Internet ein globales Gedächtnis bekommen, das sich auch merken wird, wie unbeholfen die Regierungen darauf reagierten. Dabei hätte es doch so eine einfache weltmännische Reaktion gegeben: Die Regierung veröffentlicht einfach alle Dokumente, die jetzt ohnehin online stehen, auf ihren eigenen Seiten und schreibt überall dick und fett darüber “Diese Berichte geben nicht die Meinung der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika wieder sondern die Ansichten von Einzelnen.”

Stattdessen wird das Weltgedächtnis nun genährt von (großteils nicht einmal besonders relevanten) Informationen, aber auch der Tatsache – wenn es schon einen Straftatbestand “Diebstahl von Informationen” gibt – diese Informationen von US-Diplomaten auch gestohlen wurden. Wikileaks wird nachhaltigen Einfluss darauf ausüben, was Menschen über Regierungen und große Firmen schreiben, was sie darüber denken und wie sehr sie ihnen vertrauen. Auf diesem großen Markt, dessen Handelsgut die Informationen sind, operieren die Systeme als Marktteilnehmer. Das System des klassischen asymetrischen Informationsflusses der “Mächtigen” an die “Abhängigen” versus einem System, in dem die Mitteilung eines einzelnen Hackers mehr Marktwert hat als die des Präsidenten einer Weltmacht, in dem Autoren und Rezipienten von Information nicht mehr zu trennen sind. Konkurrenz belebt das Geschäft: Von diesem Markt wird die Freiheit nur profitieren, der Wertebegriff “freiheitlich-westlich” wird sich evolvieren, um einen Aspekt reicher werden, der jetzt noch so keinen rechten Namen hat, aber schon mal einen ganz guten Arbeitstitel: hackerethisch.